Sag mir dein Geschlecht, und ich sag dir wer du bist?

Es ist normal und beinahe unumgänglich, dass Menschen andere Menschen kategorisieren. Schwierig wird es, wenn Menschen nach ihrem Geschlecht in Schubladen gepackt werden, und vor allem, wenn dieser Vorgang alltäglich und von allen – auch der Industrie – ausgeführt wird. Ein Pamphlet über geschlechtsspezifische Rollenbilder.

Glaubt man den Spam-Nachrichten, die ich anziehe, bin ich ein wellnessverwöhntes, äußerst schicksalsgläubiges Individuum, das sich ständig Sorgen darüber macht, wie es wohl den Partner fürs Leben findet, und in seiner freien Zeit am liebsten Schuhe oder Cocktailkleider kauft. Die berühmt-berüchtigten Werbemails für Potenzmittel und Penisvergrößerungen haben dagegen noch nie den Weg in mein Postfach gefunden, ebensowenig wie ich Anfragen zu Sportwetten, Auto-Magazinen und anderem „Männerkram“ bekomme. Facebook kennt mich ein bisschen besser (wen wundert‘s?), aber auch hier sind Anzeigen zu Themen, die tatsächlich mit meinen dort angegebenen Interessen in Verbindung stehen (beispielsweise für Print-on-Demand, Umweltschutzprogramme und politische Kampagnen) bunt durchsetzt mit Werbung für High-Heels und Conditioner.

Kategorie Geschlecht

Wohin man schaut, Geschlecht scheint die wichtigste Kategorie zu sein, in die wir eingeordnet werden müssen, bevor man uns etwas verkaufen kann. Das geht los bei Gratulationskarten, die unsere Eltern zu unserer Geburt bekommen haben – Herzliche Glückwünsche im jeweils geschlechterkonformen Bonbonton – und zieht sich weiter durch die Spielwarenabteilung – Schminkköfferchen und Kochutensilien unter der Aufschrift „Wie Mutti“ – bis in Friseursalon und Zeitschriftenecke. 

Aber warum eigentlich? Macht es die simple Angabe unserer Gonosomen-Kombination wirklich so viel einfacher, unsere Interessen zu entschlüsseln? Die Frage danach, ob unser Kaufverhalten vom Geschlecht bestimmt wird, ist in etwa so einfach zu lösen wie die berühmte Frage nach der Henne und dem Ei. Bieten Kaufhäuser, Modelabels, etc. Produktlinien „für Frauen“ und „für Männer“ an, weil es wirklich Dinge gibt, die von Natur aus nur diese Zielgruppe interessieren? Oder interessieren wir uns deshalb mit so großer Mehrheit für Dinge, die mit traditionellen Geschlechterrollen einhergehen, weil wir von frühester Kindheit eingetrichtert bekommen: „Du bist ein Mädchen. Es ist wichtig, dass du ein Mädchen bist. Und Mädchen sind so. Sei begehrenswert! Sei süß! Sei auf dein Aussehen bedacht!“ usw.?

Als junge Frau, die der Annahme, es gäbe „natürlich weibliche“ und „natürlich männliche“ Eigenschaften, äußerst skeptisch gegenübersteht, neige ich wenig überraschender Weise eher dazu, Zweiteres zu glauben. Bleibt allerdings die Frage: Wenn es keinen „natürlichen“ Grund dafür gibt, warum sollte jemand Energie darauf verwenden, Geschlechterklischees künstlich aufrecht zu erhalten? Warum nicht einfach Langhaarshampoo an die gesamte Bevölkerung vermarkten anstatt nur an die 50%, denen man die Eigenschaft zugesprochen hat, mit langen Mähnen zu glänzen?

Utopie einer homogenen Gesellschaft

Stellen wir uns kurz vor, wie eine Welt aussehen könnte, in der es keine Rolle spielt, welchem „Geschlecht“ ich angehöre. Unterschiedliche Kleidungsstile sind bunt über die Gesamtbevölkerung verteilt. Hohe Schuhe werden getragen von Menschen, die klein gewachsen sind und gern etwas größer wirken würden, lange Haare vielleicht von schüchternen, die sich gerne dahinter verstecken. Weil es kein Idealbild gibt, an dem sich ausgerichtet wird, gelten Vielfalt und Einzigartigkeit als sexy, der Weg des geringsten Widerstandes wird sehr viel öfter beschritten als wir es kennen. Warum die Beine rasieren, wenn dort von Natur aus Haare wachsen? Unter den Menschen existiert sowohl die Vorstellung, ein behaarter Körper könne begehrenswert sein, als auch die Ansicht, glatte Haut sei das Nonplusultra. Der Unterschied ist, dass diese Ansprüche nicht mehr schablonenhaft auf Menschen übertragen werden können anhand der Tatsache, ob dieser Mensch mit einer Vagina oder einem Penis auf die Welt kam. Also freie Auswahl für alle, kein Grund mehr, mich ständig einem Aussehen annähern zu wollen, das meinen Anlagen nicht entspricht.

Moment, denken sich da kluge Marketingexpert*innen, das klingt ja ganz idyllisch, aber wem sollen wir dann Enthaarungswachs und Rasiercreme, Langhaar-Shampoo und Kuren gegen Haarausfall verkaufen?  Wem die Diätmittelchen und Muskelaufbaushakes, die uns so gutes Geld einbringen? Warum sollen frisch gebackene Eltern eine komplett neue Zimmereinrichtung ganz in rosa kaufen, wenn sie für ihr neugeborenes Mädchen auch die kunterbunten Möbel verwenden können, die ihr älterer Bruder hatte? Und wer bringt Teenagern nun bei, dass sie ständig neue Klamotten brauchen, wenn sie damit nicht mehr ihre Identität untermauern können?

Es lohnt sich also, weiter so zu tun, als seien wir biologisch so unterschiedlich gebaut, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern mit aller Macht aufrechterhalten werden müssen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich sage nicht, dass es nicht sehr viel wahrscheinlicher ist, kleinen Mädchen ein Hello-Kitty-Kleidchen zu verkaufen als ein Cars-T-Shirt. Obwohl ich glaube, dass der Prozentsatz der Jungs, die Blümchen mögen, und der der Mädchen, die gern Sport treiben, wesentlich höher ist, als C&A, Neckermann & Co. ihnen zutrauen, gebe ich zu, dass ein gewisses Ungleichgewicht hier sicherlich besteht. Was ich sage, ist lediglich, dass diese unterschiedlichen Vorlieben nicht genetisch bedingt, sondern gesellschaftlich gewollt sind. Aus irgendeinem Grund scheint einem Jungen mit Glitzersandalen größeres Schockpotential innezuwohnen als einem Mädchen, das schon mit fünf stolz auf dem T-Shirt bekennt, drogenabhängig zu sein: „Shopping-Addict!“

Schrittweises Aufbrechen der Geschlechterklischees

Ist es also kompletter Quatsch Kleidung, Spielzeug und Co. nach Geschlechtern sortiert zu verkaufen? In einer perfekten Welt müsste ich sagen: Ja. In einer perfekten Welt könnte ich mir meine Kleidung nach den Körpermaßen aussuchen, die ich tatsächlich habe, und müsste nicht danach einkaufen, was man meinem Geschlecht durchschnittlich so zuschreibt. Da ich es jedoch für unwahrscheinlich halte, dass die globale Wirtschaft sich so schnell ändert, dass eine so große Vielfalt an Schnitten verfügbar wird, muss ich wohl damit leben, dass bei der Kleidung post-pubertärer Menschen vorerst Schnitte für breithüftige Busenträgerinnen von solchen für eher schmalhüftige Breitschultrige unterschieden werden sollten. Aber wo die komplette Revolution vielleicht noch ausbleiben muss, gäbe es dennoch eine Million erster Schritte, die ohne Probleme sofort umsetzbar wären: Hören wir auf, Farben zu monopolisieren, und lassen wir Kinder kleine Regenbogen sein, anstatt sie in blau-braun-grau bzw. rot-rosa-hellgelb gemusterte Boxen zu sortieren. Verteilen wir Accessoires wie Glitzer, Schleifchen und Schmuck, Schirmmützen, Abenteurertaschen und Reiß- und Klettverschlüsse freigiebig über die gesamte Bevölkerung. Spielen wir morgens mit der Ritterburg und nachmittags mit unseren Einhorn-Plüschtieren. Hören wir auf, uns ständig ändern zu wollen, es sei denn, es gibt einen vernünftigen Grund, mit dem unglücklich zu sein, was wir im Moment sind. (Und wie viele vernünftige Gründe gibt es schon, unglücklich zu sein?)

Nicht überzeugt, dass die Mühe einer Umstellung sich lohnt? Die dahintersteckenden Gedanken sind nicht so banal, wie sie zunächst scheinen. Um das zu illustrieren, hilft vielleicht der Gedanke an all die Zeit, die Frauen hätten, deren Haare nicht mehr permanent geglättet oder entfernt werden wollen, und all die Berufsperspektiven, die sich jungen Menschen auftäten, wenn plötzlich nicht mehr eine Batterie von Wahlmöglichkeiten sie zum „Mannweib“ oder zum „Weichei“ stempeln würden. An all die Menschen, die gezwungen wären, sich öfter zu fragen „was will ich eigentlich?“, anstatt sofort in die passende Box zu greifen. An all die kreative Energie, die das in unserer Gesellschaft freisetzen könnte, und all die Minderwertigkeitskomplexe, die wir uns ersparen würden. Probieren wir's aus!

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Autorin / Autor: pfefferminztea - Stand: 03. April 2012