Eine ungewollte Begegnung

Wettbewerbsbeitrag von Leonie W., 22 Jahre

Es war 15:47 Uhr an einem Montagnachmittag als der Aufzug steckenblieb und mit ihm zwei Frauen, die sich nichts zu sagen hatten. Zumindest meinten sie das.
„Sowas kann auch nur an einem Montag passieren“, murmelte Anna vor sich hin, während sie den Notknopf drückte.
Ein Piepsen ertönte.
Dann nichts.
Sie drückte den Knopf noch einmal.
„Sie müssen den roten Knopf drücken“, sagte die andere Frau und Anna verdrehte die Augen.
„Was denken Sie, was ich gerade mache?“, gab sie zurück.
„Ich wollte nur helfen“, sagte die Frau.
„Nun ja, das tun sie gerade wirklich wenig“, sagte Anna.
Dann ertönte eine Stimme. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ja, hallo, wir sind stecken geblieben“, sagte Anna. „Können Sie bitte jemanden schicken, der uns rausholt?“
Sie hörte ein Rauschen durch den Lautsprecher. Dann sagte die Stimme: „In einer halben Stunde wird jemand bei Ihnen sein. Bitte bleiben Sie bis dahin ruhig.“
„Na toll“, murmelte Anna.
Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass es manchmal nur eine halbe Stunde brauchte. Wie seltsam ist es, dass sich die Wege zweier Menschen wie durch Zufall kreuzen können? Gerade dann, wenn sie es am wenigsten erwarten, aber vielleicht am meisten brauchen.
„Es sieht so aus als wären wir für eine Weile hier“, sagte die Frau und ließ sich sofort auf dem Boden des Aufzugs nieder. Sie überkreuzte ihre Beine, sodass sich ihr schwarzes Gewand über ihren Schoß spannte. Die Enden ihres Schals, der ihre Haare verdeckte, warf sie sich über die Schulter und zog ihr Handy hervor.
„Kein Empfang“, sagte die Frau.
Anna zog ihr Handy hervor.
„Kein Empfang“, sagte sie dann ebenfalls. „Sicher, dass sie sich da hinsetzen wollen?“
Die Frau zuckte mit den Schultern. „Es gibt schlimmeres.“
Anna rümpfte die Nase. „Okay.“
Sie lief von einer Seite des Aufzugs zur anderen und wieder zurück. Das wiederholte sich noch ein paar Mal, bevor Anna auch aufgab und sich auf der gegenüberliegenden Seite auf den Boden setzte.
„Ich kann schlecht woanders hin“, erklärte sie.
Die andere Frau bedachte sie nur mit einem kurzen Lächeln.
„Ich heiße Amani und Sie?“, sagte die Frau.
„Anna.“
„Ein schöner Name.“
„Äh danke, ebenfalls.“
Die beiden Frauen verstummten wieder.
„Was machen Sie in Berlin?“, fragte Anna als ihr die Stille zu unangenehm wurde. Sie hätte schwören können, dass die dicke Luft im Aufzug ihre Nackenhaare zum Stehen brachte.
„Ich besuche meine Tochter. Sie ist hier Bäckereifachverkäuferin.“
Anna nickte nur. Sie wusste ehrlich gesagt nicht, was sie dazu sagen sollte.
„Und Sie?“, fragte Amani dann.
„Ich wohne hier. Ich bin nicht Bäckereifachverkäuferin.“ Anna lachte, aber der Witz schien nicht bei ihrem Gegenüber anzukommen. „Ich bin Journalistin.“
„Sie machen also Nachrichten?“
„Nun ja, also ausdenken tue ich sie mir nicht. Ich schreibe nur nieder, was so in der Welt passiert. Also ja… man könnte sagen, ich mache Nachrichten, denke ich. Ich schreibe Nachrichten. Kolumnen vor allem. Wissen Sie, was Kolumnen sind?“
„Über was schreiben Sie?“
„Außenpolitik. Internationale Ereignisse.“ Anna musterte die Frau. „Vor allem über Israel und Palästina.“
„Warum Israel und Palästina?“, fragte Amani lediglich.
„Ich…äh…ich…weiß nicht. Ich bin jüdisch und mein Chef meinte, dass es deswegen in meine Sparte fällt. Dabei bin ich nicht einmal gläubig. Ich habe wohl genauso viel mit Israel zu tun, wie meine christlichen Freunde.“ Anna lachte, aber die andere Frau nickte nur.
„Worüber schreiben Sie gerade?“
Anna zögerte. „Über die drei Palästinenser, die vor einigen Wochen gestorben sind.“
„Gestorben? Sie wurden getötet. Erschossen.“
„Sie waren Terroristen!“
„Sie waren Freiheitskämpfer.“
„Sie haben Israelis erschossen!“
„Sie wurden von zwanzig Soldaten umzingelt und ermordet!“
Anna wurde wütend. Sie wollte wirklich nicht ihren Montagnachmittag damit verbringen mit irgendeiner wildfremden Frau in einem Aufzug zu streiten.
„Und woher wollen Sie das so genau wissen?“ Anna hatte sich jetzt wieder aufgestellt und sah mit verschränkten Armen auf die Frau hinab.
„Einer von ihnen war mein Sohn.“
Anna ließ sich mit einem Quietschen an der metallenen Wand des Aufzugs wieder auf den Boden gleiten.
„Oh“, war alles, was sie herausbrachte.
Es wurde wieder still.
„Möchten Sie wissen was passiert ist? Aus unserer Sicht?“, fragte Amani.

In wenigen Monaten würde man sich nicht mehr erinnern. Der Tod von Rami Hashem würde nur einer von vielen sein. Im Westen würden sie seinen Tod triumphierend feiern. Ein weiterer Krimineller, der seine gerechte Strafe bekommen hatte. Ein Islamist. Ein Terrorist. Sein Name würde nicht genannt werden.
Es war sechs Uhr morgens als die Soldaten der israelischen Armee in Nablus eintrafen. Dann, als alle noch schliefen. Die Köpfe auf weichen Kissen, verloren in der Welt der Träume, während im Nachbarhaus der Tod an die Wände geschmiert wurde. Die Soldaten hielten ihre Gewehre wie einen verlängerten Arm, mit einer solchen Selbstverständlichkeit als wären sie mit dem Metall aus ihrer Mutter gekommen.
An diesem Morgen schlief niemand mehr als die Schüsse fielen. Wie ein Hagelregen zogen die Kugeln durch die frische Morgenluft und versetzten den aufgewirbelten Sand mit Eisen.
Kinder wurden von ihren Müttern unter ihre Betten geschoben. Sie schlossen ihre Augen und hielten sich die Ohren zu, während ihre Eltern beteten.
Als die Soldaten Nablus wieder verließen, ließen sie zwei Leichen und mehrere Verletzte zurück.
Rami Hashem blieb an diesem Tag verschont. Und so zog er mit dem Zug der Menschen durch die Stadt, der die Leichen zu ihrer letzten Ruhestätte brachte. Vermutlich war ihm zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst, dass er ihnen bald folgen würde.
Nur zwei Wochen später verbarrikadierte er sich in einem Haus, ein einzelnes Gewehr in der Hand und schoss ziellos auf die Soldaten. Bomben erschütterten das Gemäuer, während Schüsse durch die Metalltür flogen.
Als seine letzte Kugel im Sand landete, zog er sich zurück.
Seinen letzten Moment verbrachte er nicht damit, sich zu wehren.
Stattdessen zog er sein Handy hervor und rief seine Mutter an.
„Mama. Sie haben mich umzingelt. Ich kann nicht fliehen. Ich liebe dich. Es tut mir leid.“
Amani Hashem war noch am Telefon, als die erste Kugel ihren Sohn traf.

„Waren Sie schon einmal in Israel?“, fragte Amani.
Anna schüttelte den Kopf. „Und Sie?“
„Sie müssen wissen, dass es wesentlich schwieriger für mich ist, überhaupt über die Grenze zu kommen.“
„Da haben Sie wohl recht.“ Anna sah jetzt erst von ihren Händen auf. „Das mit Ihrem Sohn tut mir leid.“
„Mir auch.“
Ein Klopfen ließ die Frauen zusammenfahren und eine Männerstimme drang durch die verschlossene Aufzugstür, bevor sie sich wieder nach oben bewegten.
Es war 16:17 Uhr als die beiden Frauen aus dem Aufzug traten.
„Ich möchte nie wieder mit Ihnen in einem Aufzug steckenbleiben“, rief Anna noch.
„Ich glaube, wir können uns das nicht immer aussuchen“, erwiderte diese.
Am nächsten Tag legte Anna ihrem Chef eine Kolumne vor, für die ihre Kollegen sie als Antisemitin bezeichnet hatten. Dabei nahm sie das Wort Religion kein einziges Mal in den Mund.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Leonie W., 22 Jahre