Mein bester Freund Jakob

Wettbewerbsbeitrag von Kevin Schneidhofer, 17 Jahre

Ich kannte mal jemanden, der hieß Jakob.
Jakob war stets unauffällig, die meiste Zeit über ruhig, und manchmal machte es sogar den Anschein, als würde er sich nicht mal mehr in unserem Sonnensystem befinden. Trotzdem wusste ich, dass es ihn gab. Schließlich war ich damals sein bester Freund. Wir lernten uns in der Grundschule kennen, schlugen uns zusammen irgendwie bis zum Ende der Mittelschule durch und hatten schließlich auch größte Hoffnungen, die Hochschulen erfolgreich abzuschließen.
„Leon, wenn wir groß sind, eröffne ich ein Videospielstudio und entwickle ein Spiel, das mich endlich fordern wird.“

Ich weiß gar nicht mehr, wie oft er diesen einen Satz jeden Tag wiederholte, aber es machte mich geradezu wahnsinnig. Jakob war schon immer ein wahres Ass in Videospielen gewesen. Es gab kein Spiel, welches zu schwer für ihn schien, kein Level, welches er nicht erfolgreich absolvieren konnte. Nichts und niemand schien ihn aufhalten zu können, seiner Traumberufung näherzukommen. Auch ich nicht. Anders als er war ich schon immer eher mäßig in solchen Sachen begabt, und das bekam ich auch jedes Mal wieder aufs Neue mit, wenn wir gegeneinander spielten. Trotzdem zockte ich jeden Tag nach der Schule mit ihm. Es war mir egal, ob ich gewinnen oder verlieren würde. Hauptsache, ich konnte jetzt noch so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen, denn das war es, was ich mir am meisten wünschte. Ich hatte Angst vor der Zukunft, Angst davor, dass sich unser gemeinsamer Weg bald aufspalten würde, Angst davor, ihn zu verlieren. Doch ich wusste, dass ich stark bleiben musste. Auch wenn es meine Noten nicht zuließen, dass wir demnächst die gleiche Hochschule besuchen würden, war ich bereit, alles zu geben, den Kontakt aufrecht zu erhalten.

Doch bis dahin war noch etwas Zeit. Die letzten Prüfungen waren gerade an uns vorbeigezogen, für Jakob wie immer mit ausgezeichneten Ergebnissen, während ich mich kaum überwinden konnte, meinen Fehlschlag von Matheschularbeit meinen Eltern zu präsentieren. Auch dafür schämte ich mich, doch nicht wegen den peinlichen Gesprächen, die immer darauf mit meinen Eltern folgten, sondern weil ich, anders als Jakob, immer schon seit klein auf die Tendenz hatte, die Stärkeren kampflos gewinnen zu lassen. In dieser Hinsicht waren wir beide wie Tag und Nacht; er, die strahlende Sonne am Himmel, ich nur der schwach leuchtende Stern am Firmament. Jakob hatte immer dort weitergemacht, wo andere schon längst aufgaben, und das war es, was mich so unglaublich an ihm faszinierte. Es war, als würde ihm eine andere Persönlichkeit innewohnen, ein verborgener Charakter, vor dem niemand anders konnte, als sich vor Respekt zu verbeugen. Er hatte die Trennung seiner Mutter und seines Vaters miterlebt, und doch bewahrte er einen ruhigen Kopf, als wäre sein geistiges Alter meinem weit voraus. Er beklagte sich nicht, er musste nicht therapiert werden, er akzeptierte es einfach. Seine Mutter übernahm die vorherige Wohnung, während sein Vater sich etwas außerhalb der Stadt suchte. Es dauerte nicht lange, da hatten seine beiden Eltern neue Partner gefunden und ein Stück Normalität kehrte wieder zurück. Zum Glück schien es Jakob bei seiner Mutter und ihrem neuen Freund zu gefallen. Oder so hatte ich es zumindest immer gedacht.

In Wahrheit war das der Moment, in dem alles zu bröckeln anfing.
Es war Anfang Juli, in der Hochsaison des Sommers. Die Sonne brannte gnadenlos mit all ihrer Kraft auf uns hinunter, Thermometer schienen Schwierigkeiten zu haben, die korrekte Temperatur anzuzeigen. Niemand hörte mehr in der Schule zu, die Vorfreude auf die in wenigen Tagen beginnenden Sommerferien waren Grund genug dafür. Passend zu diesem unmenschlichen Wetter trug jeder in unserer Klasse kurze T-Shirts sowie knappe, luftig leichte Hosen, anders ließ es sich gar nicht aushalten. Der Einzige, der nichts trug, was dem Wetter entsprach, war Jakob. Schon seit einigen Tagen hatte er immer das Gleiche angehabt: Einen dicken, verhüllenden Wollpulli mitsamt einer ebenso verhüllenden, schwarzen Jeans. Schon als ich ihn so zum ersten Mal sah, wunderte ich mich über seine Kleidungswahl. Immerhin musste sein Schweiß bei diesen Temperaturen doch mehr einem Wasserfall ähneln als sonst irgendwas! Trotzdem nahm ich es hin. Ich wusste ja nicht, ob seine anderen Kleidungsstücke ihm vielleicht unbewusst zu klein geworden waren, oder ob bei seinem Versuch, das erste Mal die Wäsche zu übernehmen, alles wie bei mir in einem Desaster geendet hatte. Die anderen aus der Klasse schienen meine Meinung offenbar zu teilen, auch sie sprachen ihn nicht darauf an. Sogar unsere Lehrerin Frau Rotweld nahm es hin und tat nichts, außer ihm einen kurzen, fragenden Blick zuzuwerfen und dann anschließend mit der Stunde fortzufahren.

Irgendetwas war faul, und jeder wusste es.
Trotzdem interessierte es niemanden außer mich. Immerhin war ich auch sein bester Freund, ich konnte gar nicht anders, als mich um ihn zu kümmern. Als die Schulglocke das letzte Mal für diesen Tag ertönte und jeder aus der Klasse strömte, passte ich ihn auf dem Gang neben seinem Spind ab.
„Jakob, wird dir nicht langsam etwas zu warm in diesen Sachen? Immerhin haben wird doch jetzt schon längst Sommer!“
Seine Antwort kam mir kühl, ja fast unfreundlich entgegen.
„Ja, mir ist heiß, aber es geht eben gerade nicht anders. Lass mich bitte einfach in Ruhe.“
Ich schien mit diesem Thema wohl etwas in ihm angesprochen zu haben. Es kam mir so vor, als hätte seine Persönlichkeit, welche er all diese Jahre lang so offen herumgetragen hatte, in diesem Moment Platz für etwas anderes gemacht. Die nächsten Tage verhielten wir uns kühl gegenüber und redeten nur miteinander, wenn es unbedingt nötig war. So näherte sich der Zeugnistag immer mehr und mir wurde bewusst, dass ich wahrscheinlich auch an meinem letzten Tag wenige bis gar keine Wörter mit Jakob reden würde. Ich fand es absolut schrecklich. Wie würde ich so denn bloß den Kontakt mit ihm für spätere Zeiten halten können? Wenigstens in den Sommerferien müssten wir uns doch einmal treffen! Irgendetwas in mir drang an die Oberfläche. Wenn er nicht mit mir reden wollte, dann musste ich ihn eben irgendwie in ein Gespräch verwickeln, in dem er gar nicht anders konnte, als mir seine Aufmerksamkeit zu schenken. Am letzten Tag nach Schulschluss wartete ich sorgfältig, bis alle anderen die Klasse verlassen hatten. Jetzt waren nur noch Jakob und ich da, ganz alleine. Ich trat auf ihn zu.

„Wieso führst du dich mir gegenüber in letzter Zeit eigentlich wie der größte Vollarsch auf?“
Für kurze Zeit sah es so aus, als wäre Jakobs Gesicht voller Trauer erfüllt. Dann vertraute er mir sein größtes Geheimnis an und zog seinen Pulli aus. Was ich darunter zu sehen bekam, kann ich bis heute nicht aus meinen Gedanken verdrängen.
Blaue Flecken. Überall nur blaue Flecken.
Voller Verwirrung stürmte ich regelrecht aus dem Klassenzimmer. Ich war damals zu taub, um seine Hilferufe wahrzunehmen, zu schockiert, um zu verstehen, was ihm der neue Freund seiner Mutter zu Hause all die Zeit über angetan hatte, und zu hilflos, um etwas dagegen auszurichten. Mein größter Fehler war, ihm zu sagen, dass es in Ordnung war. Dass es keine Schande ist, die Hilfe anderer anzunehmen, wenn die Situation außerhalb deiner Macht liegt. Das man nicht stur sein darf, nur weil der Stolz verletzt wird.
Mittlerweile bin ich schlauer geworden.

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Autorin / Autor: Kevin Schneidhofer, 17 Jahre