Leere Wand

Wettbewerbsbeitrag von A-L. E., 16 Jahre

Ein weißer Fleck an der Wand, wo eigentlich ein Bild hängen sollte. Wünsche, die visualisiert werden können, aber noch nicht auf Tonpapier übertragen.
Erinnert an einen Frühlingsmoment der unangenehmen Sorte: Eben scheint noch die Sonne auf das Gesicht, dann schiebt sich eine Wolke davor. Frischer Wind, Gänsehaut. Die Wärme vermissen. Körperwärme.
Der Geruch. Eine Stimme, so fein wie die Lerchen im Sommer zwitschern, aber bei Wut so eindringlich wie brechendes Glas.
Wie sprichst du? Ein weißer Fleck an der Wand, wo ein Bild von dir hängen sollte.
Der Fleck ist weiß, weiß wie unsere Zukunft. Wir können durch das Outback trampen, auf den Malediven tauchen. Bunte Fische, grüne Algen. So viel Farbe hätte auf diesem weißen Fleck Platz gehabt, Wodka-Mische auf dem weißen T-Shirt verteilt.
Schwarz ist die Sünde, weiß die Unschuld. Seltsam, dass sie keine offensichtlichen Gegenteile sind, das Gegenteil von Unschuld ist Schuld. Was ist der Unterschied zwischen Sünde und Schuld? Oder gibt es Sünden nur, wenn ich an eine höhere Macht glaube?
Wenn das so ist, bin ich lieber ein schuldiger Atheist als ein gläubiger Sündiger- ich bin nicht religiös, aber ich glaube an dich.
Ein weißer Fleck, auf schwarzem Grund, so kann ich mich beschreiben. Und du bist der weiße Fleck. Bei dir ist es umgekehrt, ich bin der schwarze Fleck auf deinem weißen Grund.
Eine kahle Wand, eine Außenwand, durch die die winterliche Kälte dringt. Ihre langen Arme hindurchstreckt, Vorbeigehende an den Fußknöcheln kitzelt. Eine Wand, die mit dem Foto einen Sinn bekommen hätte. Ich kann den Heizkörper so hochdrehen wie ich will, wenn ich den weißen Fleck ansehe, friere ich. Manchmal stehe ich da obwohl ich weitergehen muss, halte an obwohl die Zeit fließt. Versuche sie zu stoppen, doch sie rinnt mir durch die Hand wie feiner Sand.
Das letzte was ich ansehe, wenn ich die Wohnung verlasse und das erste wohin ich gehe, wenn ich zurückkomme.
Dieser weiße Fleck, der mit einem vollen Rahmen kaschiert werden soll. Egal was für ein Rahmen, von mir aus Ebenholz oder schweres Eichenholz, egal wie stark es im Kontrast zur restlichen Einrichtung steht. Hauptsache, es ist dein Lächeln in der Mitte des Porträts, das mich durch den Tag begleitet.
Ich kann über den verpassten Bus, die Kommentare, die Schlammspritzer auf der weißen Hose lachen, weil ich weiß, dass dein Lächeln mich empfangen wird. Irgendwann. Es kann einer Wand einen Existenzgrund geben und vielleicht sogar mir.
Ich stehe da und frage mich, wie breit dein Lächeln auf diesem Bild sein wird. Ich mache einen Schritt zur Seite und überlege, um es ein seitlich aufgenommenes Bild ist oder doch frontal. Spät abends stehe ich da, im spärlichen Flurlicht und posiere, wie du posieren würdest.
Es sind eine Menge Posen, aber ich komme zu keinem Ergebnis.
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht einmal, ob du es magst. Magst du es, in Linsen zu blinzeln, für Blitzlicht zu lächeln?
Ich wünsche, dass du es mir erzählen wirst. Eines Tages, damit die Wand nicht mehr so kalt und leer ist. Wenn es Sommer ist und ich endlich die dicke Wolljacke ablegen kann.
Sag mir, muss ich ein Opfer bringen oder ist das mit einer Glaubensgemeinschaft verbunden? Was muss ich tun, damit aus diesem Fleck eine Erinnerung wird?
Jeden Tag gehe ich an diesem Fleck vorbei und jeden Tag gehe ich hochaufgerichtet durch die Straßen, um jemanden zu finden, dessen Lächeln an meine Wand passt. Dessen Frühlingsaugen das Eis schmelzen.
Bitte, ich will eine Stimme für dich finden und ein Lachen, ein Grinsen und die Wut. Wirst du Teller zerschlagen oder stumm auf deine Schuhe sehen?
Nachts, wenn ich schlafen sollte stehe ich vor dem weißen Fleck an der öden Wand. Blondes oder braunes Haar? Ich schließe die Augen und bete, wenn ich sie wieder öffne, dass da ein Bild hingepinnt sein wird. Aber alles was ich sehe ist ein weißer Fleck, wo ein Foto sein sollte.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: A-L. E., 16 Jahre