Nur zu Gast

Wettbewerbsbeitrag von Miki Do, 25 Jahre

Die Liebe klopft an der Tür zu deinem Herzen und stellt sich als ein Märchen vor. Neugierig lässt du den Besucher in dein Herz. Denn er macht dich so glücklich, als wärst du Dornröschen, die von ihrem Prinzen wach geküsst wurde.

Eines Tages schenkt die Liebe dir ein glitzerndes weißes Kleid. Entzückt drehst du dich darin um deine eigene Achse und denkst, dir würden Flügel wachsen. Euer erster Kuss schmeckt nach einem Versprechen. Ein süßer Geschmack, der für immer auf deiner Zunge bleiben würde.

Es wird Sommer. Die Liebe führt dich über eine wacklige Seilbrücke. Unter euren Füßen fließt ein gigantischer Fluss. Über euren Köpfen hängt die Sonne an einem wolkenlosen blauen Himmel.
„Wohin bringst du mich?“, fragst du.
Deine Beine sind müde vom Laufen, dein Hals trocken vom Durst. Du willst Rast machen, doch ihr seid bereits zu weit gegangen, um umzukehren. Hinter euch erstreckt sich ein dunkler Wald. Du kannst nicht mehr erkennen, woher ihr gekommen seid.
Die Liebe lächelte dich an. „Ich bringe dich an einen Ort, an dem es nur uns beide gibt.“

Leise legt sich der Nachtschleier um euch. Die Mondsichel lugt wie ein Grinsen hinter den Wolkenschleiern hervor. Im Wald heult eine Eule auf. Ihr erreicht eine verlassene Burg und steigt in das oberste Zimmer eines alten Wachturms. Es ist kalt. Du frierst, denn du trägst nur dein weißes Kleid. Im Dunkeln glitzert es nicht. In dem Zimmer steht ein Bett und ein großer Spiegel, wie für euch gemacht. Durch das offene Fenster fällt das fahle Mondlicht hinein.
„Dieser Ort gehört uns.“ Die Liebe stellt sich ans Fenster und blickt in die Ferne. „Hier kann uns niemand stören.“
Nach einer Weile setzt sie sich zu dir aufs Bett und berührt dich zärtlich mit Mund und Fingern.
„Du bist wunderschön“, sagt sie, zieht dein Kleid aus und liebkost dich, bis du Gänsehaut bekommst.
Du schließt die Augen, spürst das kalte Mondlicht auf deiner Haut und die Wärme der Liebe in deinem Körper. Während ihr euch vereinigt, singt sie dir ein Lied von der Ewigkeit. Ihre Stimme vernebelt deinen Verstand, dass du das aufziehende Gewitter vor dem Fenster nur durch die Blitze im Spiegel erahnen kannst. Diese grellen Risse, die eure nackten Körper zeichnen wie tiefe Wunden. 

Am nächsten Morgen wirst du nicht wie Dornröschen wach geküsst.

Du bist alleine und es ist noch dunkel. Du schaust aus dem Fenster und realisierst die schwindelerregende Höhe, in der du dich befindest. Der Wald, der Fluss und die Brücke sind verschwunden. Draußen erstreckt sich ein unendlich weites Feld voll Dürre und Staub. Du drehst dich um. Die Tür ist mit Ketten verriegelt. Dein Kleid liegt zerrissen auf dem Boden. Deine Flügel sind gebrochen. Dir wird kalt. Du umarmst deinen nackten Körper, aber er wird nicht wärmer. Du sinkst auf die Knie und weinst. Du schreist, rufst nach der Liebe, aber sie kommt nicht.

Das Märchen hat sich als eine Tragödie entpuppt.

Lange kämpfst du gegen die Liebe an. Vor dem Fenster bleibt es dunkel und leblos. Mal wünscht du dir, die Liebe würde zurückkommen, um dich zu retten. Mal wünscht du dir, die Liebe soll dir gestohlen bleiben. Deine Wünsche sprichst du nicht aus. Deine Gedanken und Gefühle stauen sich in dir auf, bis du im Spiegel erkennst, dass du dich im Kreis drehst.
Die Liebe existiert nicht mehr in deiner Welt. Jede Angst, Wut und Trauer ist gegen dich selbst gerichtet. Du streichst über dein Spiegelbild und wischt dir eine Träne weg. Der Spiegel ist heile. Du bist nicht gebrochen. Du bist in der Lage auszubrechen, wenn du dir selbst wichtig bist.

Du wickelst die Decke um deinen Körper und beginnst, mit bloßen Fingern dein Kleid zu flicken. Die Zeit zieht wie ein Sturm an dir vorbei. Während du an deinen Flügeln arbeitest, landen warme Sonnenstrahlen auf deiner Haut. Draußen wird es allmählich hell.

Deine Flügel lassen sich nicht vollständig reparieren. Du könntest sterben, wenn du versuchst, mit ihnen aus dem Fenster zu springen. Doch ob du fällst oder fliegst, ist deine Entscheidung. Du atmest durch, springst und breitest deine Flügel aus. Sie sind viel größer und schöner als in deiner Erinnerung. Du gleitest wie ein Vogel und wirst vom Wind getragen.
Ohne dass es dir bewusst wird, hast du dich fürs Fliegen entschieden.
Hinter dir zerfällt die Burg zu Staub, der im Licht der aufgehenden Sonne funkelt wie Glitzer. Unter dir verwandelt sich das leblose Land in eine grüne Wiese. Bäume sprießen aus dem Boden, bis sich ein Wald bildet. Flüsse entstehen und Rehe tauchen auf, die dich anschauen, als wärst du ein Regenbogen. Das Glitzer hüllt deinen Körper ein und formt eine Rüstung. Du fragst dich, ob du träumst. Denn du fliegst und lebst weiter, auch wenn die Liebe fehlt.
Beides war vorher für dich unvorstellbar.

Als du zu Hause landest und in den Spiegel schaust, erkennst du eine Kriegerin in dir. Auch wenn du deine Flügel und die Rüstung ablegst, fühlst du dich stark. Du streichst über dein Spiegelbild und lächelst. Die Liebe ist fort, aber die Selbstliebe bleibt.
Denn die Selbstliebe wohnt in deinem Herzen und die Liebe war dort nur zu Gast.

Im Laufe deines Lebens werden viele Besucher dein Herz verlassen und ihre Spuren hinterlassen. Manchmal schmerzen diese Spuren, aber mit der Zeit werden sie verblassen. Dein Herz wird wieder in der Lage sein, einen neuen Gast zu empfangen. Solange du dich selbst liebst, wird auch die Liebe irgendwann kommen und bleiben.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Miki Do, 25 Jahre