Hetero zu sein

Wettbewerbsbeitrag von Mikey L. Theiß, 19 Jahre

"Du stehst auf Frauen? Wie ekelhaft."
Dies war einer von vielen Sprüchen, die Lukas sich im Laufe seiner Schulzeit anhören durfte.

Du fragst dich jetzt vielleicht, weshalb dies so seltsam ist. Schließlich ist Lukas ein Junge und Heterosexualität die Norm.

Nun das liegt daran, dass Lukas bei Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde. Ja, du hast richtig gehört. Lukas ist ein Mädchen. Nun ja biologisch.

Recht früh bemerkte er, dass mit seinem Körper irgendetwas ganz falsch lief. Während seine Klassenkameradinnen auf der weiterführenden Schule Push-Up BHs trugen, fühlte er sich selbst in Sport BHs unwohl.

Eigentlich hätte er sich dessen viel früher bewusst werden sollen.

Beispielsweise mit 9, als er - genau wie sein Vater - sich in der Gegenwart von Freunden das Shirt auszog. Wie sie ihn angestarrt hatten, während seine Eltern ihm immer wieder gesagt hatten, er solle doch das Shirt anlassen. Der arme neunjährige Junge verstand nicht weshalb. Schließlich lief sein Vater auch ohne herum. Also warum durfte er dies nicht?

Oder damals, als er bereits in der Grundschule in Rollenspielen immer die männliche Rolle übernommen hatte. Selbst damals wusste er nicht warum, doch fühlte es sich gut an. Nun, bis die Kinder anfingen ihn als "Lesbe" zu beschimpfen. Natürlich ist dies kein Schimpfwort an sich, doch wird es heute noch immer als solches missbraucht. Damals wusste Lukas zwar noch nicht die genaue Bedeutung jenes Wortes. Er war immerhin noch ein Kind. Doch war dies der erste Zeitpunkt, an dem er Diskriminierung in seiner eigenen Umgebung erlebt hatte.

Oder damals im Kindergarten, als sein Lieblingskindergärtner der einzige männliche war. Zwar war dessen Auto stehts gefüllt mit leeren Energydrinks und er stehts müde, dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, für Lukas Lieder auf der Gitarre zu spielen, wann immer jener ihn danach gefragt hatte.

Selbst in der weiterführenden Schule fiel dem jungen Lukas dies nicht auf und das, obwohl er drei Clubs beigetreten war, welche nicht eine einzige Frau als Mitglied verzeichnen konnten.

Du siehst also, so einfach war dies alles nicht. Lukas verdrängte diese Information bis ins Erwachsenenalter.

Denn was hätte er tun sollen? Sich die Haare abschneiden und sagen: „Ab heute bin ich ein Mann!“



Er wäre das Gespött der Leute geworden!

Dabei wollte Lukas nichts mehr als nur dazu zu gehören. Ein Junge zu sein, wie die anderen es waren. Dieser Wunsch äußerte sich in Neid. Er war neidisch auf ihre flachen Brüste, ihre Stärke und ihre tiefe Stimme. Vor allem aber war er neidisch darauf, dass es vollkommen normal für sie war, auf Mädchen zu stehen.

Letzteres benutzte er, um seine eigenen Gefühle zu verdrängen.

"Ich bin nur neidisch auf sie, weil es ihnen leichter fällt eine Freundin zu finden."

Er log sich an. Tag ein. Tag aus.
Natürlich wusste er, dass es auch normal für Mädchen war, Gefühle für ihresgleichen zu hegen und anderen würde er dies auch nie absprechen. Er selbst wollte sich jedoch nie als Lesbe bezeichnen. Warum? Nun dies war ihm all die Jahre selbst nicht so ganz klar.

Erst mit 18 traf er auf einen jungen Mann, Derek, der genau wie er war. Die beiden lernten sich über das Internet kennen und trafen sich anschließend bei ihm zuhause.

Je öfter sie einander sahen, desto häufiger wurde Lukas mit seiner eigenen Dysphorie konfrontiert. Derek sprach sehr oft von seiner. Er konnte keine Tonaufnahmen seiner Stimme anhören, da jene zu hoch war. Er trug Binder, da ihm die Anwesenheit seiner Brust mental zusetzte und er wollte Testosteron nehmen.

Lukas, der in einem Dorf isoliert aufgewachsen war, hatte nicht gewusst, dass es in Deutschland tatsächlich eine medizinische Behandlung dafür gab. Alles, was er im Internet gefunden hatte, waren englischsprachige YouTube Videos und unzählige Fachartikel, welche ihm damals mit zwölf zu hoch waren. Er ging also davon aus, dass sich die ganze Thematik auf Amerika beschränkte. Zugegeben, nach einer Weile hatte er aufgehört zu recherchieren, weil es ihm sehr ausweglos vorkam.

Jetzt allerdings, wo er dies herausgefunden hatte und ihm Derek ein knappes Jahr nach deren ersten Begegnung ein Bild von seiner ersten Testosteroninjektion geschickt hatte, übermannte ihn erneut die Eifersucht.

Da wurde es ihm bewusst. All die Erkenntnisse des letzten Jahres, all der Hass auf seine weiblichen Charakteristika und der unbeschreiblich starke Neid auf Männer. Dies alles waren Manifestationen seiner eigenen Geschlechtsdysphorie gewesen. Er war transsexuell.

Was jetzt?

Als ob dies nicht schon schlimm genug gewesen wäre, musste er sich nun outen. Bei Leuten, welche dieselben Denkmuster wie seine Peiniger in seiner Schulzeit besaßen.

Seine beste Freundin akzeptierte ihn sofort. Seine Mutter tolerierte es. Sein Vater jedoch wollte ihn zweimal vor die Tür setzen, hätte ihn seine Mutter nicht gestoppt.

Oft bekam er zu hören, es hätte keine Anzeichen gegeben. Dies stimmte natürlich nicht. Nur hatte nie jemand auf sie geachtet, bis sie Lukas selbst wie Schuppen von den Augen gefallen waren.

Zu Beginn dachten alle, es sei eine Phase und rieten ihm von Hormonen und Operationen ab. Lukas würde sich jedoch niemals freiwillig Diskriminierung aussetzen. Wäre er sich nicht sicher gewesen, hätte er sich erst gar nicht geoutet. Für ihn war es klar: Eine Phase war es mit Sicherheit nicht!

Er rief bei unzähligen Psychotherapeuten an. Es hagelte Absagen an allen Ecken und Enden. Allen fehlten die Kapazitäten, oder sie trauten es sich nicht zu, da sie ihrer Meinung nach das notwendige Wissen nicht besaßen. Schließlich fand er jedoch einen, der ihm Hormone verschreiben würde.

Die Monate verstrichen und langsam verwandelte sich die Ignoranz seines Umfeldes in Toleranz. Die Akzeptanz dauerte zwar noch eine ganze Weile länger, allerdings war Lukas zu jenem Zeitpunkt sehr zufrieden damit, einfach nur toleriert zu werden. Es stellte einen großen Kontrast zu den vorherigen Umständen da.

19 Jahre hat er benötigt, sich selbst zu akzeptieren. Heute hat Lukas keine Angst mehr davor, klar und deutlich zu sagen, wer er ist.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.