Morgen mit Engel

Wettbewerbsbeitrag von Dorothee Stern, 22 Jahre

„Ihr Menschen fasziniert mich“, verkündete Yahel durch das Radio. „Ich beobachte euch jetzt schon über Tausende von Jahren und ihr entwickelt euch ständig weiter. Ihr kommt niemals zum Stillstand.“
Ich seufzte und lehnte den Kopf für einen Moment gegen die geöffnete Kühlschranktür. 06:17 Uhr – es war zu früh für solche tiefgründigen Gespräche. Ich schloss den Kühlschrank, ohne etwas herauszunehmen. Nach der Arbeit würde ich einkaufen müssen. Wenn es dann nicht schon zu spät war und es noch etwas gab, das man einkaufen konnte.
„Was meinst du?“, fragte ich, während ich mich zu ihm umdrehte.
Er saß am Küchentisch – ein heller Fleck aus Flügeln und Augen, seine Umrisse vielleicht vage humanoid – und beugte sich über die Zeitung von gestern. An der Nordsee hatte das Meer eine weitere Stadt verschlungen – 98 Tote, hunderte Verletzte, tausende Menschen ohne Zuhause. Der Flüchtlingsstrom ins Landesinnere floss stetig weiter.
„Ich meine,“ das Radio verstummte kurz, als müsste er nach den richtigen Worten suchen, „obwohl ihr schon so lange auf dieser Welt seid, verändert ihr euch immer noch. Ihr passt euch an eure Umstände an und lernt, Krisen zu bewältigen. Ihr trotzt allem, was mit der Welt um euch herum passiert.“
„Haben wir denn eine Wahl?“ Ich ging zum Vorratsregal und griff nach der Kaffeedose.
Leer …
Natürlich.
Yahel überlegte und das Radio rauschte leise im Hintergrund. Durch das geöffnete Fenster drang Totenstille herein. In Momenten wie diesem fühlte ich mich, als wäre ich der letzte Mensch auf diesem Planeten. Zumindest war ich der letzte Mensch in diesem Haus. Alle anderen waren weggezogen.
Schließlich entscheid er sich für: „Ich glaube nicht.“
Eine weitere Pause.
Ich nahm mir einen Apfel aus dem Regal – ein rotes, rundes Ding aus dem Gewächshaus, wo die Bäume von einer Maschine bestäubt wurden seitdem es keine Bienen mehr gab. Die Trockenheit der letzten paar Sommer hatte sie alle dahingerafft.
„Trotzdem. Euer Überlebenswille macht euch einzigartig. Keine andere Spezies versucht so sehr, das Beste aus ihrer Situation zu machen.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Not macht wohl erfinderisch.“
Yahel blätterte die Zeitung um und ich ließ mich ihm gegenüber auf den Küchenstuhl sinken. Wenn er nicht sprach, gab das Radio statisches Rauschen von sich. Der Empfang hier war schon immer furchtbar gewesen.
„Sieh nur.“ Er zeigte mir die Zeitung. „Ihr macht sogar die alten Städte wieder bewohnbar.“
„Mal abwarten“, meinte ich. Das abgedruckte Bild zeigte einen strahlenden Architekten neben seinem Modellbau. Daneben befand sich eine Abbildung von Hamburg kurz nach dem Sturm, der die Stadt zum Großteil zerstört hatte. Jetzt wollte man auf Stelzen bauen, wo die alten Städte gewesen waren. Ob das funktionieren würde, woher das Baumaterial dafür kommen sollte und wer das alles bezahlen sollte, war noch unklar.
„Aber das ist genau das, was mich so fasziniert“, fuhr er unbeeindruckt von meiner Antwort fort. „Ihr gebt nicht auf, euch und eure Umgebung anzupassen. Ihr verändert euch mit euren Umständen.“
„Tun das nicht alle Spezies?“, fragte ich. „So funktioniert doch Evolution.“
Er seufzte. „Nein, nicht alle. Wir verändern uns nicht. Wir sind immer noch so, wie wir geschaffen wurden.“
Ich runzelte die Stirn. „Luzifer hat sich verändert.“
„Und den Preis dafür bezahlt.“ Seine Augen klimperten traurig.
Konnten Engel weinen?
Das Radio und ich schwiegen eine Weile, begleitet vom stetigen Rauschen. Draußen ging die Sonne auf: ein gleißendes Rot über dem Wald.
„Ich glaube, wir sind nicht dazu gemacht, uns zu verändern“, fuhr er nach einer Weile fort. „Wir sind hier, um den Menschen zu dienen.“
Ich zog eine Augenbraue hoch. „Ist es das, was du gerade tust?“
„Ist es das nicht?“
„Manchmal kommt es mir vor, als würdest du mich heimsuchen“, gab ich zu. „Aber manchmal bin ich auch froh, jemanden zum Reden zu haben.“
Außer ihm sah ich nicht viele andere Personen, nicht einmal mehr auf der Arbeit. Seit die Fabrik aufgegeben worden war, zogen die Leute weg von hier. Es gab keine Arbeit, nicht einmal mehr einen Anschluss an den Rest der Welt, seit sie die Bahnstrecke stillgelegt hatten. Die Leute zog es in die Stadt, in die vermeintliche Sicherheit. Diejenigen die blieben, wusste einfach nicht, was sie sonst anfangen sollten.
Yahel sah mich lange aus unendlichen Augen an. „Ich auch.“
„Gibt es keine anderen Engel mehr?“
„Ich habe lange keinen mehr gesehen.“
„Vielleicht ist das so, weil du immer bei mir bist.“
Er richtete sich gerade auf und ordnete seine Flügel. Seine Augen verengten sich. „Wo sollte ich sonst sein?“
„Ich weiß nicht.“ Wieder zuckte ich mit den Schultern. „Im Himmel vielleicht?“
„Nein, meine Aufgabe liegt hier.“
Eine Feder löste sich aus einem seiner Flügel und fiel auf den Küchenboden. Wir beide sahen es, doch keiner von uns regte sich. Nicht nur die Menschen verloren also Dinge in dieser seltsamen Zeit.
Verzweifelte Zeit? Vielleicht.
Er hatte recht: Die Menschheit veränderte sich. Trotz der Krisen würde das Leben irgendwie weitergehen. Anders als zuvor, aber es würde weitergehen.
Die Kirchturmuhr schlug sieben.
Ich stand auf und warf die Reste meines Apfels in den Mülleimer. Den Müll sollte ich auch mal wieder runternehmen. Vielleicht würde ja diese Woche jemand kommen und ihn abholen.
„Kommst du mit zur Arbeit?“, fragte ich.
„Wenn du das möchtest.“
Ich nickte, er legte die Zeitung beiseite. Gemeinsam gingen wir zur Tür meiner Wohnung. Ich zog mir Schuhe an, ging nochmal zurück, um das Radio auszuschalten, dann verließen wir das Haus und machten uns auf den Weg zur Bushaltestelle. Vermutlich würde es schneller gehen zu laufen, als darauf zu warten, dass ein Bus kam. Andererseits hatte ich es auch nicht eilig zur Arbeit zu kommen. Es gab ohnehin nicht viel zu tun.
Yahel ließ sich auf die Bank an der Haltestelle sinken. Ich setzte mich neben ihn. Hier draußen war seine Gestalt noch heller als in meiner Wohnung – ein Stückchen Sonne an einem noch sehr kalten Morgen.
Wir schwiegen. Es war so still, als würden wir in einer Geisterstadt sitzen. Kein Mensch war zu sehen und seit es in der freien Wildbahn kaum noch Vögel gab, war die Luft erschreckend leer.
Ich sah Yahel an. „Glaubst du, wir haben es noch verdient, dass ihr uns Menschen dient?“
Er gab ein leises Brummen von sich, aber ohne das Radio konnte ich keine Worte ausmachen. Ich bildete mir ein, dass sein Licht wärmer wurde, als wollte er mir sagen, dass alles gut werden würde.
Die Straßenlaterne über uns flackerte noch ein letztes Mal, dann ging sie aus.
Ich stand auf. „Komm, lass uns laufen.“

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Dorothee Stern, 22 Jahre