Narzissen Blüten

Wettbewerbsbeitrag von Ioka, 18 Jahre

Das erste Blütenblatt fällt.
Von langen, rauen Fingern abgerissen, zerdrückt und weggeschmissen stürzt es in das wogende Grün. Entfernt vom Körper eines Ganzen. Andere folgen, trudeln im aufkommenden Wind davon. Halten sich an den Händen, bis sie keine Kraft mehr haben. Ein stilles Schluchzen, ein Aufbegehren gegen eine Macht, der sie nicht trotzen können. Und in ihrem Leid trägt der Wind sie an Worten vorbei, leise und für niemanden sonst bestimmt:
„Ich schaffe das. Ich schaffe das nicht.“
Der Übeltäter, Folterer, Mörder – ein einfacher Mensch. Ein Mensch, der im nassen Gras sitzt, mit dem Kopf auf den Knien und eine Blume zerreißt. Ein Mensch, wie es einst Narziss war, der nun sein Dasein als solch eine Blume fristet, weil er sich selbst zu sehr liebte.
Dieser Mensch liebt sich selbst zu wenig.
Dieser Mensch stellt sich immer und immer wieder dieselbe Frage:
„Schaffe ich das oder schaffe ich es nicht?“

Und je weiter der Wind die Blütenblätter trägt, desto weiter fliegen seine Gedanken. Beginnen bei ihm selber. Beginnen bei dem Wunsch, jemand anderer zu sein. Erinnern ihn daran, dass er, egal wie er sein Äußeres verändert, immer der Gleiche sein wird. Dass er sein Äußeres nur verändert, weil das bei seinem Inneren nicht geht. Gefangen in einem Körper, den man verändern kann, der altert, vergeht. Doch letztendlich wird er immer er selbst sein. Seine Gedanken fliegen weiter zur Menschheit als Ganzes. Zeigen ihm, wie sie sich von Generation zu Generation unterscheidet. Rückschritt und Fortschritt, immer im Wandel. Meinungen verändern sich, Klamotten und Währungen. Häuser sehen anders aus. Und während die Blüten über die neuen Häuser und Wiesen fliegen, schweben seine Gedanken im All. Er betrachtet die Erde und fragt sich, wie sie wohl in 100 oder 1000 Jahren aussehen wird. Wie sie aussehen wird, wenn die Sonne sich dazu entschließt, zu explodieren. Wie sie aussehen wird, wenn die Menschen letztendlich keine andere Wahl haben, als in der Hitze zu vergehen. Er fragt sich, wozu die ganze Veränderung, Verwandlung und der Fortschritt dann nützlich war. Er wünscht sich, dort zu sein. Zu verglühen. Er wünscht sich, nichts zu sein. Er wünscht sich, eine Blume zu sein, die nicht fühlen oder denken muss.

Den Kopf auf den Knien greift er nach ihr. Sanft, staunend über ihr Glück, es so einfach zu haben. Mehr Blütenblätter fallen. Sie werden vom Wind davon getragen. Bei jedem Blütenblatt, das stirbt, stellt er sich die Frage: „Warum nicht ich?“
Zerrissene Blumenstiele bedecken die Erde.
„Ich schaffe das. Ich schaffe es nicht.“
Und als die reisenden Blüten zu Boden fallen, als sich eine warme Hand über seine legt und das letzte Blütenblatt abzupft, meint eine Stimme: „Wir schaffen das“. Auseinander gerissene Hände halten sich aneinander fest. „Wir schaffen das“, wiederholt der Mensch. Er steht aus seinem Ring aus Blumenstielen auf und folgt der warmen Hand.
Als die Blütenblätter vergehen wie die Zeit, wandern die Samen der vergessenen Blumenstiele in die Erde. Verwandeln sich in etwas Neues. Im nächsten Frühling blühen sie.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.