Flickenteppich

Wettbewerbsbeitrag von Lou, 18 Jahre

Sie sitzt mir gegenüber, zusammengekauert, die abgekauten Fingernägel ziehen rote Spuren über die Haut an ihren Armen.  Es ist schon das dritte Mal diesen Monat, dass sie hier ist. Und jedes Mal trägt sie neue Narben. Fein aber sichtbar. Seit neuestem redet sie offener. Sie baut ihren Staudamm langsam wieder ab, Stück für Stück und Stein für Stein. Und ich schaue ihr dabei zu, lausche ihren Worten. Immer wieder mache ich mir eine kleine Notiz auf meinen Block, versuche etwas Ordnung in die Flut zu bringen, die immer schneller, immer kräftiger über die Mauer strömt. Und sie kann einem wirklich leidtun.  Die Last, die auf ihren Schultern liegt, die Emotionen, versteckt hinter der fahlen Maske ihres Gesichts. Wie kann das Leben eine einzelne Person so zerbrechen? Wie kann das Schicksal das zulassen? In meinem Beruf sehe ich eigentlich nur die dreckigen Seiten des Lebens. All das, was Menschen normalerweise unter Verschluss halten.  Und es ist faszinierend und erschreckend, wie kaputt jemand sein kann, ohne zu zerbrechen. Manchmal ist es aber auch das, was mir Hoffnung gibt. Was mir hilft, am Ende des Tages mein Büro und somit mit all den Geschichten abzuschließen, die ich in den letzten Stunden begleitet habe. Ich lasse sie da, eingeschlossen in dem Zimmer mit hellblauen Wänden,  einer bunten Couch und meinem liebsten Flickenteppich. Der Flickenteppich ist symbolisch, erinnert mich an meine Arbeit. Flicken. Oder genauer gesagt die Mittel dazu bereitstellen.
Die menschliche Psyche ist ein DIY-Projekt. Egal was passiert, egal durch wen, am Ende ist der einzige, der einen reparieren, einen retten kann, man selbst. Und so ist das einzige, das ich für sie tun kann, zuhören und versuchen, sie auf die richtige Spur zu bringen. Das Mädchen vor mir  macht Fortschritte. Große Fortschritte. Ich weiß das, die Erfahrung stellt mir einen breiten Maßstab zur Verfügung. Sie muss es noch erkennen. Aber ich bin stolz auf sie. Sie kämpft, sie gibt nicht auf, sie lässt sich nicht unterkriegen. Und das ist besonders schwer, wenn der Gegner man selbst ist.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Lou, 18 Jahre