Das Gut der Staatsbürgerverantwortung

Wettbewerbsbeitrag von Sara Krämer, 21 Jahre

U – Bahnhof München, geprägt von Hektik, Lärm, Dreck. Ein Zug fährt mit quietschenden Reifen ein. Er hält an. Stopp. „Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten ausgerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.“ (Art. 26, Abs. 2, allg. Erklärung der Menschenrechte). Die Frau neben mir schaut mich fragend an. Ja, was soll das bedeuten, sollte man sich fragen. Die Türen gleiten auf und gleichzeitig die meiner zeitlichen Wahrnehmung. „München“ steht in Großbuchstaben auf dem Zug geschrieben. M wie Verantwortung. Das Kind mir gegenüber schüttelt den Kopf: Das ergibt keinen Sinn?

Sein Vater wühlt derweilen in der Aktentasche. Er hat Recht, Zeit sich mit tiefgründigeren Themen zu beschäftigen, um alles sinnvoll erscheinen zu lassen.
Die Schulbank drücken. Ein feststehender Ausdruck. Seltsam… mir wurde nicht gelehrt, mich unterdrücken zu lassen, sondern mich zu erheben, als verantwortliche Staatsbürgerin. Wir sprechen so oft von einer Verantwortung uns selbst gegenüber, der zu erstrebenden Glückseligkeit durch Gesundheit und eigene Freude, vielleicht auch solcher Verantwortung gegenüber unseren Lieben. Doch das, was Schule uns lehrt, ist unsere Aufgabe als bildender Teil eines Staates, als kreierender Bürger. Und ein Staat als solcher existiert somit erst bei der Beachtung aller Rechte durch das entstandene Bewusstsein unter den Menschen. Dieser Teil, der wir sind und die Kraft, die wir haben können, die hohe Relevanz eines kritischen Blicks auf Mensch und Macht, das möchten uns Menschenrechte vermitteln, durch Bildung überliefern. Doch klingt dies so optional, so auf eigene Stimmungen und Interessen reduziert, den wahren Wert der Verantwortung wird man durch Überlieferung nicht finden. Ein Bewusstsein für das, was erst den Grundstein der Möglichkeit unserer eigenen Glücksseligkeit formt, ein Bewusstsein für den Frieden mit all seiner Endlichkeit, seiner Zerbrechlichkeit, kann erst durch Personen mit einem eigenen Verantwortungsbewusstsein in sich selbst erwachsen. Friede ist kein Wink des Schicksals, kein Einfluss von Politikern, keine eigene Erfüllung subjektiver Träume, keine niedergeschriebenen Gesetze, keine Reden oder die vermeintlich politische Situation eines Staates. All das ist nur die Verschleierung des Gegenteils, die Täuschung auf dem Weg zum Ursprung des Bösen, ein Spiegelbild von egoistischem Streben, von egoistischem Streben nach Macht. Macht über mich selbst. Macht über die Welt.
Der Friede an sich dabei längst verblasst, durch ein Sterben des schlechten Gewissens sogar teilweise zersplittert, unsichtbar. Aber der Friede verschwindet nie, die Waage von Grundrechten wird von Menschen bewegt, sie entscheidet über Täuschung und Gewicht und jeder von uns neigt dazu, keinen Anteil am Einstellen der Waage zu nehmen, zuzuschauen, zuzuschauen und das seichte Wippen als Spiel des Windes zu betrachten, den aktuellen Stand als akzeptabel hinnehmend.
Bloß nicht hinschauen, dann wird schon nichts passieren, wie ein Kind: Die schmutzigen Finger der Hauptakteure verschmutzen den Lack der Farbe, aber meine Förmchen sind sauber. Allein eine solche Denkweise ist an Egoismus kaum zu übertreffen. Lässt man sich von einem menschlichen Verstand lenken, trägt man das Grundgesetz in sich und es verleitet einen dazu nach diesen inneren und im positiven Recht festgeschriebenen Werten zu handeln. Eine Handlung nach einem Sinn in der Menschlichkeit und nicht in den Zwecken. Dem Privileg der Denktätigkeit und dem damit verbundenen Gerechtigkeitssinn bewusst. Das eigene Glück basiert auf einem lokalen Frieden, der absolut wandelbar ist und deren Wert allen Menschen als Verdienst ihrer bloßen Existenz zugestanden werden muss.
Ein Lehrer lehrt uns: „Werde dir der Perfektion deiner eigenen Lage als einzusetzendes Mittel gegen die vom Verstand signalisierten Ungerechtigkeiten bewusst. Realisiere dich als Bürge eines Staates, der eine vollkommene Glücksseligkeit erst durch praktische Verantwortung gegenüber seiner Existenzgrundlage erreichen kann. Meine Aufgabe ist es nicht, dich vom jetzigen Wohlstand einiger Staatsbürger zu überzeugen, die Marionetten des Machtspiels können schneller als Lichtgeschwindigkeit verändert werden. Meine Aufgabe ist es, dich über die Spielregeln menschlicher Macht und deren Intention aufzuklären und dir zu zeigen, wozu dein Verstand deine Hände gebrauchen würde. Nicht zu Gewalt, oh nein, ein sanftes Bewegen der Waage kann deren Stellung, also die Gewichtung rational zu erfassenden Menschenrechte beeinflussen. Doch bleib konstant und renne niemals schnell, ein Windzug könnte deine Errungenschaften schnell vernichten. Verantwortung bleibt, Gesellschaft verändert rasend. Nutze deine Sinne und deinen Verstand und nimm glücklich und selbstlos nach eigenem Vorbild dein Gut der staatsbürgerlichen Verantwortung in die Hand. Denn sie ist der Ursprung deines Glücks.“
Es ist wie eine Erkenntnis von etwas, dass man immer schon gewusst hat, eine Aktivierung einer Tugend, die man immer scheute zu entdecken. Weil sie Anstrengung bedeutet, eventuell nicht im eigenen Leben vollendet werden kann und somit einen vollkommen selbstlosen Anspruch in sich trägt. Doch durch Rationalisierung kann sie leichter als alles andere erfasst werden. Ich als Staatsbürger bin für den in meinen Fähigkeiten stehenden Einsatz für gesellschaftlichen Frieden verantwortlich. Darin besteht meine moralische Verpflichtung. Dieser Denkprozess und daraus automatisch zu ziehende Konsequenz ist nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Bildungsauftrags jeden Lehrers. Als lebensbestimmende Erkenntnis und vollkommene Erfüllung des Rechts auf Bildung.

Meine Zeitdehnung wird wieder gerafft, die Türen des Zuges gleiten zu. Das Gleis ist nun vollkommen leer, alle haben sich der Flüchtigkeit des Moments hingegeben. Der Mann mit der Aktentasche legt die Hand an die Scheibe. Irgendwann werden sie ihn einholen. Er kann nichts festhalten. Weder den Zug, noch den Moment.
Adieu.
M wie Verantwortung. Inspiration ist überall. Alles hat seinen Sinn. Nur Mut, Güter können auch ohne subjektiven Wert sein. Das Quietschen der Räder ist zu laut. Die Stille der Verantwortung tut weh. Und macht uns stark.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Sara Krämer, 21 Jahre