Der kleine Junge am Fenster

Eine mörderische Adventsgeschichte

Die Weihnachtszeit war für Familie Spencer die wichtigste Zeit des Jahres. Jeder freute sich auf die besinnliche Atmosphäre, wenn die Kerzen brannten und alles in ein warmes Licht getaucht ist. Die Mutter backte wie jedes Jahr ihre leckeren Plätzchen, der Vater ging in den Wald und fällte die schönste Tanne, die zu finden war. Die Kinder bastelten kleine Sterne und Weihnachtsmänner und die Großmutter strickte für jeden einen warmen Schal und ein Paar Socken.

Am ersten Adventssonntag saß die Familie nun friedlich beisammen. Die Mutter hatte einen leckeren Braten zubereitet und die Kinder hatten die Servietten zu Seerosen gefaltet und auf die Teller verteilt. Alle waren in Hochstimmung. Ihre Gesichter strahlten im Kerzenlicht und der Tannenbaum war schöner als alle Jahre zuvor. Doch dieses Weihnachten sollte alles anders werden…

Als alle nun laut schmatzend über ihre Teller gebeugt am Tisch saßen, rief Emily, die Kleinste, plötzlich: „Seht mal! Da draußen steht ein kleiner Junge!" Und wirklich, da draußen auf ihrer Terrasse stand ein kleiner Junge. Er stand einfach nur da und starrte sie an. Er sah so verloren aus. Seine Mütze war völlig durchlöchert, genauso wie seine übrige Kleidung. Das Auffälligste an ihm war eine Kette mit einem Kreuz als Anhänger.

Wütend stand der Vater auf: „Was erlaubt dieser dreiste Bub sich eigentlich?“ Er riss die Terrassentür auf und wollte den Jungen schon anschreien, aber dieser drehte sich schnell um und rannte durch den Garten zurück auf die Straße. Der Vater schloss die Terrassentür wieder. „Ach“, sagte er, „Lassen wir uns doch nicht von dem die schöne Stimmung verderben.“ Und er setzte sich wieder an den Tisch und die schöne Atmosphäre des Zimmers versetzte alle augenblicklich zurück in weihnachtliche Stimmung.

Die nächsten Tage vergingen schnell. Alle hatten viel zu tun und den kleinen Jungen längst vergessen. Die Kinder öffneten jeden Tag ihr Adventstürchen und alle freuten sich schon auf den zweiten Advent. Als es endlich soweit war, machte die Mutter wieder einen leckeren Braten und die Kinder falteten die Servietten. Doch als sie gerade mit der Vorspeise fertig waren, bemerkten sie wieder den kleinen Jungen, der sehnsüchtig zu ihnen in ihr warmes Wohnzimmer schaute. Als der Vater wieder wütend aufstand, sagte die Großmutter leise: “Ach lass ihn doch. Er tut doch nichts.“ Doch der Mutter war es nicht recht, dass jemand Fremdes um ihr Haus schlich und dem Vater ebenfalls nicht. Und auch als die Kinder meinten, dass es doch nur ein kleiner Junge sei, ließen sich Vater und Mutter nicht erbarmen.
Als nun alle wieder nach draußen sahen, war der kleine Junge verschwunden. Die Mutter war erleichtert: „Na seht doch, er ist jetzt bestimmt wieder nach Hause gelaufen. Jetzt esst weiter!“ Doch als sie weiteraßen war die schöne Stimmung verflogen. Jeder am Tisch dachte an den kleinen jungen und auch die Eltern konnten nicht bestreiten, dass sie kein schlechtes Gewissen hatten.

Die nächsten zwei Wochen kam der kleine Junge jeden Abend, wenn die Familie zu Abend aß, doch nie ließen sie ihn in ihr warmes Heim oder sprachen ihn an. Sie taten so, als wäre alles ganz normal. Jedoch fühlten sie sich, als würde jedes Mal, wenn der kleine Junge auftauchte, ein kalter Windhauch in ihr Wohnzimmer wehen und alle vor Kälte zusammenzucken lassen.

Am vierten Advent hatte der Vater die Schnauze voll. Er beobachtete den Garten, bis der kleine Junge auftauchte. Dann riss er die Terrassentür auf und schrie ihn an: Geh weg! Wir wollen dich hier nicht mehr haben!“ Der kleine Junge erschrak, drehte sich traurig um und lief so schnell er konnte davon. Am Abend darauf kam er nicht mehr. Und auch die nächsten drei Tage nicht. Alle waren froh darüber, auch die Kinder, Emily und George schienen nicht mehr an ihn zu denken. Die Weihnachtsstimmung war wieder zurückgekehrt und alle fühlten sich frei und unbeschwert.

An Heiligabend gab es den leckersten Braten, den die Mutter je zubereitet hatte. Die Kinder konnten kaum still sitzen, da sie so gespannt auf ihre Geschenke waren. Als sie mit dem Essen fertig waren, rannten die Kinder gleich zum Weihnachtsbaum und suchten ihre Geschenke. Als alle fertig ausgepackt hatten und der Boden übersäht von Geschenkpapier war, wollten alle schon aufstehen. Doch plötzlich rief Emily: „Da ist ja noch ein Geschenk!“

Es war ein braunes Paket ohne Absender und auch ohne Briefmarke. „Von wem ist das denn?“, fragte der Vater. Die Mutter holte das Paket unter dem Baum hervor. „Das war heute Morgen im Briefkasten, ich dachte das wäre von deiner Schwester.“, sagte sie zum Vater. Der Vater zuckte mit den Schultern „Das muss aber jemand in unseren Briefkasten gelegt haben. Es ist ja schließlich keine Briefmarke drauf. Mach’s doch mal auf.“ Als die Mutter das Päckchen öffnete, kam ein kleines schwarzes Kästchen zum Vorschein. Sie öffnete die Schleife und nahm den Deckel ab. In dem Kästchen befand sich eine Kette mit einem kleinen goldenen Kreuz. „Das hatte der kleine Junge doch um, oder?“, sagte die Großmutter. „Wieso sollte er uns die schenken?“ Alle starrten ungläubich auf die schimmernde Kette… Doch niemand hatte den Zeitungsartikel bemerkt, in dem stand, dass vor vier Tagen die Leiche eines kleinen Jungen gefunden worden war.

Er war erfroren und das einzige, was die Ärzte bemerkt hatten, war die tiefe Schramme hinten an seinem Hals. Sie meinten, es sähe aus, als ob jemand ihm eine Kette abgerissen hat… Und auch niemand hatte bemerkt, dass George, der jüngste Sohn der Familie, gelächelt hat, als die Mutter das Päckchen geöffnet hatte. Und dass er leise geflüstert hat: ‚Für Euch…’

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Autorin / Autor: jori - Stand: 10. Dezember 2008