Ein Weg, ein Leben und ein schneebedeckter Zaunpfahl

Eine Adventsgeschichte über einen Neuanfang

Du wirkst so verloren. Verloren, verloren, verloren… Das Wort hallte in meinem Kopf wieder, wie in einem leeren Tunnel. Meine ehemals beste Freundin schaute mich mit großen, mitleidigen Augen an. Dieses Mitleid konnte ich nicht ertragen. Ich hatte nicht um Mitleid gebeten, ich wollte kein Mitleid und ich brauchte kein Mitleid. Damit würde ich schon alleine klarkommen, das hoffte ich zumindest. Wenn ich ehrlich war, hielt ich mich an dieser Hoffnung schon eine ganze Weile fest. Seit ein einziger Tag mein Leben auf den Kopf gestellt hatte und nichts als ein leeres Loch zurückgelassen hatte. An diesem Tag, vor ungefähr einem halben Jahr, hatte es den ersten Unfall seit Jahren in unserem Kuhdorf gegeben. Ein kleiner, gelber Golf war wegen Versagen der Bremsen gegen einen Baum geknallt. In ebendiesem Golf, in dem ich selbst viel zu oft mitgefahren war, saß mein bester Freund, mein Ruhepunkt, mein Leben. Von Anfang an war klar, dass es für ihn keine Rettung gab, er starb im Krankenhaus an den Folgen des Unfalls. Mir blieb nichts von ihm, außer das große Loch in meiner Brust, das versuchte, mich von innen zu zerreißen. Du wirkst so verloren... Ich spürte die Reaktionen auf mein Verhalten nur zu deutlich. Nach dem Unfall hatte ich mich komplett zurückgezogen, meine Freunde und die Schule vernachlässigt und einfach zu nichts mehr Lust gehabt.

Alles was von mir über war, war eine leblose Hülle

Doch was genau wollte Anna mir sagen, als sie meinte, ich wirke verloren? Klar, das Wort „verloren“ war alltäglich, aber eigentlich dachte man sich nicht mehr viel dabei. Der Standardsatz meines Vaters war, Bayern habe schon wieder verloren. Mein Bruder kam öfters nach Hause und beichtete meiner Mutter, dass er schon wieder einen Regenschirm verloren habe. Jede Woche schaute ich mir dir Gruselserie „Lost“ auf ProSieben an. Doch was hatte das alles mit mir zu tun? Als ich später in meinem Zimmer saß und Tee trank, schaute ich hinaus in den verschneiten Himmel. Ich sah in jeder Schneeflocke einen Tag in meinem Leben. Was war davon noch übrig geblieben? Eigentlich konnte man mein trostloses Dasein schon nicht mehr Leben nennen… Alles was von mir über war, war eine leblose Hülle, die jeden Tag das Selbe tat. Ich funktionierte wie eine Maschine. Diese Gedanken trieben mir die Tränen in die Augen. Ich hatte herausgefunden, was ich verloren hatte. Ich hatte mich selbst verloren. Jedoch war ich entschlossen, mein altes Leben wiederzufinden. Ich wollte neu anfangen, ganz langsam und Schritt für Schritt. Und weil die Weihnachtszeit dafür gut geeignet ist, beschloss ich, auch anderen Menschen auf ihrem Weg zu helfen. Ich beschloss, eine Geschichte zu schreiben, die deutlich machen sollte, wie schnell man sich selbst verlieren kann und dass man erst einen kleinen Wink mit dem schneebedeckten Zaunpfahl benötigt, um das zu erkennen. Meine Geschichte begann mit den Worten: Du wirkst so verloren. Verloren, verloren, verloren… Das Wort hallte in meinem Kopf wieder, wie in einem leeren Tunnel…

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Autorin / Autor: schneewibkchen - Stand: 10. Dezember 2008