Verlorene der Zeiten

Autorin: Amal El-Mohtar
Übersetzt von: Simon Weinert

Ein Häuflein Asche, verrührt mit Blut. Wasser, das in einem MRT-Gerät blubbert. Ein Stück Dorsch im Bauch einer Robbe. Wirbelnde Teeblätter. Auf diese Weise kommunizieren Rot und Blau, so schicken sie sich gegenseitig Briefe.
Rot und Blau sind die Protagonistinnen des Romans „Verlorene der Zeiten“, und sie sollten sich gar nicht schreiben, denn sie sind Feindinnen. Ihre Geschichte spielt in einer Welt, in der zwei mächtige Instanzen Krieg gegeneinander führen. Ihr Ziel: mithilfe von Zeitreisen das Schicksal der Erde zu ihrer gewünschten Version der Zukunft zu lenken. Während die Agentur durch kühle Berechnungen und effiziente Angriffe versucht, den Krieg der Zeiten für sich zu entscheiden, setzt Garden auf das langsame Wachstum seiner Pflänzchen.
Der Lauf der Zeit ist hier dargestellt durch Stränge, zusammengesetzt aus unzähligen Fäden, die es zu flechten, verknoten, zerschneiden gilt. Jede kleinste Bewegung oben am Strang, also in der Vergangenheit, führt weiter unten zu bedeutenden Veränderungen. Genau das ist die Aufgabe der beiden Agentinnen Blau und Rot. In verschiedenen Weltregionen und Epochen nehmen sie Einfluss, kämpfen, morden, jede auf ihrer Seite. Bis sich plötzlich ihre Wege kreuzen und sie beginnen, sich quer durch Raum und Zeit Briefe zu schreiben.

Eine riskante Korrespondenz

Was als spöttische Provokation beginnt, vermutlich aus Langeweile entstanden, entwickelt sich nach und nach zu einem tiefgründigen Gedankenaustausch, einer intimen Korrespondenz. Dabei gehen die beiden Agentinnen ein großes Risiko ein, denn ihre Annäherungen bleiben natürlich nicht unbemerkt. Als die Agentur Rot aufträgt, Blau zu töten, spitzt sich die Geschichte dramatisch zu. Das Ende hält dann noch einige Überraschungen bereit. Dass dies auch ein ganz neues Licht auf die Beziehung der Protagonistinnen wirft, ist die letzte Pointe der Zeitreisen-Verwicklungen.
Dieses Gedankenexperiment – was wäre, wenn wir die Zeit zurückdrehen und damit Gegenwart und Zukunft verändern könnten – ist uns aus vielen anderen Fantasy-Werken bekannt und macht Geschichten über Zeitreisen so faszinierend. In Verlorene der Zeiten ist diese Frage allerdings nur eine von vielen Facetten. Der Roman hebt sich ab durch seine Vielschichtigkeit, die sich übrigens auch im gelungenen Cover sehr gut widerspiegelt (die Farben, natürlich: rot und blau).
Die historischen und mythologischen Schlachtfelder, scheinbar willkürlich zusammengestellt, sind hier Schauplätze zeitloser philosophischer Betrachtungen über die großen Fragen des Lebens. Oder wo lässt es sich besser über den Sinn und Unsinn von Utopien nachdenken als im untergehenden Atlantis? Vor allem aber haben die Protagonistinnen einen ganz eigenen, subjektiven Blick auf die geschichtlichen Kulissen. Blau liebt es, im London des 19. Jahrhunderts Tee zu trinken, mit dem jugendlichen Dschingis Khan hat sie in den Himmel geschaut.

Ein poetisches Lesevergnügen für alle

In ihren Briefen geht es um universelle Themen wie Hunger, Liebe und Freundschaft, Treue und Verrat. Auch deshalb ist eine Identifikation mit den Romanfiguren möglich, ihre Gefühle sind glaubhaft dargestellt trotz ihrer hybriden, mit allerhand Technologien ausgestatteten Körpern. Außerdem setzen die Autor_innen auf einen besonderen literarischen Kniff: Amal El-Mohtar und Max Gladstone übernehmen jeweils die Perspektive einer der beiden Protagonistinnen und verleihen ihnen so einen individuellen Stil, ohne dass die Erzählung ihre Harmonie einbüßt.

Ganz allgemein lässt sich sagen: Was diesen Roman wirklich besonders macht, ist seine Sprache (ins Deutsche übertragen von Simon Weinert). Reich an Anspielungen, ironischen Bemerkungen, skurrilem Humor macht sie die Geschichte zu einem wahren Lesevergnügen. Dazu kommen all die bildlichen Beschreibungen und poetischen Passagen, die im Kopf der Lesenden eine Welt voller Farben, Geräusche, Gerüche und Emotionen entstehen lassen.
Natürlich: Auf die Sprache muss man sich einlassen wollen, weil sie in dem ohnehin komplizierten Fantasy-Universum nicht unbedingt für mehr Klarheit sorgt. Mit dieser Einschränkung ist Verlorene der Zeiten allen ans Herz zu legen, nicht nur Science-Fiction-Fans. Die kommen sowieso auf ihre Kosten, schließlich wurde der 2019 im Original erschienene Roman seither schon mit den drei wichtigsten Preisen des Genres ausgezeichnet (Hugo, Nebula und Locus Award).

Für alle, die sich beim Lesen gern eine andere Welt erträumen, bietet das Buch noch einen besonderen Vorzug: Abseits klassischer Erzählungen rückt es marginalisierte Gruppen ins Zentrum. So sind nicht nur die beiden Protagonistinnen weiblich, auch sonst besetzen Frauen ganz selbstverständlich die mächtigen Positionen, als Befehlshaberinnen, Prophetinnen und Göttinnen. Und wie in jeder guten Geschichte darf auch die Romantik nicht fehlen: Verlorene der Zeiten ist die wohl ungewöhnlichste Liebesgeschichte, die ich je gelesen habe.

*Erschienen bei Piper*

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Autorin / Autor: Aurelia Scheuring - Stand: 23. September 2022