Solange du bei uns bist

Autorin: Jodi Picoult
übersetzt von Rainer Schumacher

Buchcover

Was würdest du wollen, wenn du mit Schädel-Hirn-Trauma im Koma liegst, ohne Aussicht jemals wieder das Bewusstsein zu erlangen? Maschinen abschalten oder nicht?

Weder der Titel, noch die Inhaltsangabe haben mich übermäßig begeistert. Ohne große Erwartungen habe ich eine Leseprobe im Internet zu diesem Buch gelesen. Die konnte mich dann jedoch überzeugen, die Geschichte zu lesen, da alles ganz anders beginnt als erwartet.

Womit beschäftigt sich die Autorin? Es geht einerseits um Wölfe und andererseits die Frage, wann und aus welchen Gründen lebenserhaltende Maßnahmen abgeschaltet werden sollten. Das ist eine ungewöhnlich Kombination, die mich neugierig gemacht hat. Die Geschichte wird aus vielen verschiedenen Perspektiven erzählt. Die wichtigsten davon sind Luke Warren, ein überzeugter Wolfsforscher, der sogar mehrere Jahre in der Wildnis mit einem Wolfsrudel gelebt hat, seine 17-jährige Tochter Cara, die nach der Scheidung ihrer Eltern schließlich zu ihrem Vater gezogen ist, sowie sein deutlich älterer Sohn Edward, der vor sechs Jahren nach Thailand gegangen ist und den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen hat.

Das Buch beginnt mehr oder weniger mit einem Unfall, den Cara mit einer gebrochenen Schulter überlebt, bei dem ihr Vater Luke Warren sich jedoch so sehr verletzt, dass er mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Koma liegt. Die Ärzte geben ihm keine Chance jemals wieder das Bewusstsein zu erlangen, geschweige denn aktiv am Leben teilnehmen zu können. Während der Leser langsam an die unterschiedlichen Charaktere herangeführt wird, beginnt der Kampf zwischen Cara und Edward. Der Bruder ist aufgrund eines Anrufes seiner Mutter wieder zurückgekehrt und möchte die Maschinen am Bett seines Vaters umgehend abschalten. Cara ist da völlig anderer Meinung, sie klammert sich an die Möglichkeit eines medizinischen Wunders, außerdem hat sie ihrem ehemals so geliebten großen Bruder immer noch nicht verziehen, dass er sie damals so unerwartet und plötzlich verlassen hat.

Dazwischen wird immer wieder von Luke Warrens Erfahrungen mit den Wölfen berichtet, die für ihn sein Leben waren. Die Korrektheit der detaillierten Informationen über Wölfe habe ich noch nicht nachprüfen können, allerdings widersprechen sie nicht dem Wissen, das mir andere Quellen vermittelt haben.
Mehrmals hat Luke Warren seine Familie verlassen, um mit den Wölfen zusammen zu sein, er hat mit ihnen im Rudel gelebt, mit ihnen gefressen und sogar für zwei Jahre in der Wildnis ohne Hilfsmittel in einem Wolfsrudel überlebt. Dabei scheint er sich jedoch nicht gut um seine eigene Familie gekümmert zu haben, was vor allem Edward ihm übel nimmt. Cara hatte nie ein Problem mit ihrem ungewöhnlichen Vater und seinen Macken, sodass sie sich bei ihm immer gut aufgehoben und geliebt gefühlt hat.

Wie werden sich die Geschwister einigen? Edward, der seinen Vater zwar ebenfalls geliebt, aber nie einen echten Zugang zu ihm gefunden zu haben scheint, lässt alle – dem Leser unbekannten – Dinge hinter sich zurück, die ihn dazu bewogen haben auszuwandern, und versucht das Beste für seinen Vater zu entscheiden. Dabei stützt er sich unter anderem auf ein Dokument, in dem der 15-Jährige seinem Vater bescheinigen musste, das Nötige zu veranlassen, sollte er in solch eine Situation kommen.
Cara hingegen, die ihren Vater vergöttert, ist davon überzeugt, dass ihr Vater fest im Leben verwurzelt war und immer alles dafür getan hat, auch Wölfe zu retten, die in der Natur verloren gewesen wären oder denen keine Chance mehr gegeben wurde. Zudem fühlt sie sich mitschuldig an den Folgen des Unfalls für ihren Vater.
Die Frage, die gegen Ende des Buches beantwortet wird, ist die, welches der beiden Geschwister als Vormund für den Vater eingesetzt werden wird. Ihre Meinungen über das weitere Vorgehen hingegen bleiben unverändert. Manchmal bekommt man den Eindruck, dass es mehr darum geht, eine kaputte Familie zu sanieren, als um den Vater.

Das Buch hat mich positiv überrascht, da es die anspruchsvolle Thematik eher indirekt angeht. Die Autorin hat zwei starke gegensätzliche Charaktere geschaffen, die sich gegenüber stehen. Im Verlauf des Buches konnte man eine bessere Beziehung zu Cara aufbauen, was sicher der Tatsache geschuldet ist, dass man den Grund für Edwards „Flucht“ nach Thailand erst gegen Ende des Buches erfährt. Dadurch ist es dem Leser verwehrt, diesen Charakter schon früher nachvollziehbarer zu gestalten. Von Edward bekommt man über die meiste Zeit nur das Bild des jungen Mannes, der aus irgendeinem Grund so verletzt von seinem Vater war, dass er seine eigentlich geliebte Familie verlassen hat. Cara hat auch ihr kleines Geheimnis, das sich jedoch nicht so zwischen sie und den Leser schiebt.
Meine Befürchtung vor der Lektüre war zunächst, dass die Autorin nur einen Schlagabtausch zwischen den beiden unnachgiebig vertretenen Positionen der Geschwister liefern würde. Die Kapitel, in denen Luke Warren von seinem Leben mit den Wölfen erzählt, sind nicht nur taktisch klug platziert (fast sogar schon zu offensichtlich), sondern sind perfekt geeignet, um dem Buch eine völlig andere Dynamik zu verleihen. Im Grunde genommen bilden sie meiner Meinung nach die interessantesten Teile und machen den mittlerweile im Koma liegenden Vater zum interessantesten und vielschichtigsten Charakter der ganzen Geschichte.
Würden mich die anderen Charaktere genauso unaufdringlich und nebenbei von sich überzeugen können wie Luke Warren, dann würde ich wirklich begeistert von diesem Buch sein.

*Erschienen bei Bastei Lübbe*

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Autorin / Autor: islenski.hesturinn - Stand: 28. Januar 2016