Davico ist der Sohn des Kopfes der mächtigen und berühmt-berüchtigten Bank der Familie di Regulai im Stadtstaat Navola. Er soll in die Fußstapfen seines Vaters treten und das Spiel des Handelns, der Intrigen, der List, der Diplomatie der Erpressung, der Versprechen und der Gewalt erlernen. Er soll Meister darin werden, andere zu lesen und dabei selbst keine Miene zu verziehen. Aber Davico ist ganz anders. Er ist warmherzig und wenig interessiert an den Geschäften der durchtriebenen di Regulai, er liebt Tiere und versteht es, in die Natur abzutauchen. Und man kann ihm jede Regung am Gesicht ablesen. Ganz schlechte Voraussetzungen.
Dementsprechend kann er die Erwartungen seines Vaters nicht erfüllen und wird von schlimmen, schlimmen Ereignissen überrollt. Ob ihm das seltsame Drachenauge helfen kann, das auf dem Schreibtisch seines Vaters thront und ihn magisch anzieht?
Als ich den Klappentext gelesen habe, auf dem von epischer Fantasy und von Drachen (und ihrem Erwachen) die Rede ist, habe ich mir wirklich etwas ganz anderes vorgestellt. Wer einen rasanten, konventionellen Fantasyroman erwartet mit fantastischen Drachen, Magie und heroischen Gefühlen, dem würde ich sagen: Finger weg.
Das 800 Seiten starke Buch startet etwas zäh. Es ist mühsam sich an die vielen Namen und Charaktere zu gewöhnen, es kommen zu Beginn fast nur männliche Figuren vor und auch Davico, der Ich-Erzähler, ist nicht wirklich symphytisch - ein unsicherer Jugendlicher, der die Dienstmägde heimlich beim Baden beobachtet und sich in sexuellen Fantasien ergeht. Eigentlich ein echter Anti-Held. Bis Seite 200 habe ich gedacht, dass ich dieses Buch nie fertiglesen würde. Aber es ist komisch, es entwickelt dennoch einen seltsamen Sog, vielleicht, weil man vermutet, dass irgendwann etwas passieren wird. Und ja. Es dauert zwar, aber es passiert etwas und das ist nach all der beschaulichen Beschreibung durch die Augen Davicos, der die Zeichen einfach nicht lesen kann, ein ziemlicher Rundum-Schock. Verrat auf der ganzen Linie. Dranbleiben lohnt sich also wirklich und am Ende war ich fast schon besessen von diesem Buch. Der Roman ist auf jeden Fall äußerst blutig und brutal: Morde, Hinrichtungen, Folter sind an der Tagesordnung und wir müssen den wenig heldenhaften Davico auch quälend lange beim Ganzkörperverfall begleiten.
Eine wunderbare Wiedergeburt als strahlender Held mit magischen Kräften bleibt einem verwehrt (oder auch erspart), das würde in diesem Buch auch gar nicht passen. Dennoch spielt das Drachenauge gegen Ende noch eine Rolle und wird zum Gamechanger. Nur, dass das Buch dann auch zu Ende ist. Jetzt frage ich mich, wird es eine Fortsetzung geben? Es ist ein bisschen so angelegt, es muss aber auch nicht. Mich hat das Ende jedenfalls etwas frustriert zurückgelassen, aber vielleicht ist es auch genau das Ende, das zu diesem Buch passt.
Ich weiß nicht recht, wie es mir schlussendlich gefallen hat. Es ist auf jeden Fall keine 0815-Fantasy, die man wegliest wie nichts und sich danach nie wieder erinnert. Es ist schon ein besonderes Buch, das haften bleibt. Das mit Erwartungen der Leser:innen spielt und sie als Erwartungen entlarvt. Das wenig klischeehafte Figuren enthält, die einem aber auch nicht wirklich ans Herz wachsen und immer etwas fremd bleiben. Erhabene Gefühle kommen beim Lesen nicht auf. Die Liebe siegt nicht, echte Treue gibt es nicht, Mut und Stolz enden mit dem Mund an den kotverschmierten Stiefeln der Mächtigen. Aber es ist ja auch keine schablonenhafte Romantasy-Schmonzette, sondern ein Roman, der Fantasyfans mit Vorsatz vorenthält, was sie erhoffen: dass gute Mächte dem Helden im letzten Moment die passenden Superkräfte verleihen.
Wer also etwas Ausdauer mitbringt, sich nicht schnell ekelt (vor Ratten, Käfern und abgetrennten Gliedmaßen) und mit Brutalität klarkommt, der kann in diesem Buch in eine faszinierende Welt eintauchen, in der es um Macht, Geld, Politik und vor allen Dingen um üblen, üblen Verrat geht, der eigentlich aber nur eine logische Konsequenz der beschriebenen Gesellschaftsordnung ist.
Wenn es eine Fortsetzung geben, werde ich sie lesen.
Erschienen bei Fischer
Autorin / Autor: luthien - Stand: 29. September 2025