Meine Utopie

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Frisch geschieden war ich und nicht mehr ganz jung, als ich im Jahre 1979 mein neues Leben begann. Meine Tochter war seit zwei Jahren volljährig und mit ihrem frisch angetrauten Ehemann, einem GI, nach USA ausgewandert. Ich hatte mich vorübergehend in die Mansarde meines Elternhauses verkrochen, doch die Fürsorge meiner zwar alten, doch noch recht vitalen Mutter, artete schnell in Bevormundung aus.
Ich konnte mir damals nicht vorstellen, ganz alleine in einer Wohnung zu leben. So suchte ich nach neuen Wohnformen, neuen Freunden, einem neuen Leben!

Keinesfalls konnte und wollte ich mich zu diesem Zeitpunkt auf eine neue Beziehung einlassen. Viel zu lange hatte ich ausgeharrt in der Ehe mit einem jähzornigen Alkoholiker. Nun wollte ich erst mal meine neue Freiheit genießen. Doch gleichzeitig sehnte ich mich nach körperlicher Nähe und zärtlicher Berührung, die ich in meiner Ehe lange vermisst hatte. So stürzte ich mich immer wieder unüberlegt in flüchtige Abenteuer, die meist einen schalen Nachgeschmack hinterließen.

In einem Kommunikationskurs der Volkshochschule lernte ich schließlich Gerda kennen, die die Gruppe leitete. Sie erzählte, dass sie in einer WG mit zwanzig Leuten lebte. Gerda war Psychologin und ihre Kommunikationskurse waren sehr beliebt. Sie spürte mein Interesse an ihrer WG, denn manchmal fuhr ich sie nach dem Kurs nach Hause und fragte sie aus. Ihre Antworten klangen zunächst eher ausweichend und ich wurde immer neugieriger. Schließlich lud sie mich zu einem Fest der WG ein, das so ganz anders war, als alle Feste, die ich jemals besucht hatte. Bunt gekleidete, freundliche Menschen luden zu Traumreisen ein, die mich faszinierten. Die Leute der WG wirkten locker und auf eine geheimnisvolle Art erotisch. Wir tanzten viel auf diesem Fest, und ganz ohne Alkohol fühlte ich mich berauscht, als ich danach nach Hause fuhr. Am nächsten Tag schon war mir klar, dass ich genau so sein und leben wollte wie die Menschen, die ich auf dem Fest getroffen hatte.

Gerda, die Psychologin, half mir schließlich, mit ein paar Freunden eine zweite Gruppe zu gründen. Zu dem Haus, das die WG in der Nürnberger Hochstraße besaß, gehörte noch ein bis dahin leerstehendes Hinterhaus. Da gab es genügend Platz für uns sechs, drei Frauen und drei Männer. Unsere Gruppe wurde von einem Bewohner der ersten Gruppe in die Regeln der Kommune eingeführt. Erstmals erfuhr ich, dass die WG zu einer überregionalen Organisation gehörte, die in mehreren großen Städten präsent war. Diese Zusammenhänge interessierten mich anfangs nur am Rande und wurden mir in ihrer Tragweite erst sehr viel später bewusst. Obwohl alles neu und manches befremdend für mich schien, ließ ich mich spontan und ohne groß nachzudenken, auf diese neue Art des Zusammenlebens ein. Ich fühlte mich als Teil eines großartigen Experiments, das mir als die Chance meines Lebens erschien.

Zweierbeziehungen waren in dieser Gruppe verpönt und wurden als kleinbürgerlicher Mief betrachtet.
Wir lebten innerhalb unserer Gruppe freie Sexualität, wobei wir unsere Partner täglich wechselten. Dabei kamen wir uns ungeheuer fortschrittlich vor! Die Hausarbeit, die Finanzabrechnung und das Essen kochen teilten wir  nach Fähigkeiten auf. Wir hatten so genannte Stundenkonten, wo jede/r gleich viel Arbeitszeit in die Gruppe einbrachte. Ich kochte gerne und gut für die Gruppe, denn das tat ich schon immer von allen Hausarbeiten am liebsten. Es machte mir Spaß, vollwertig und überwiegend vegetarisch zu kochen für meine Mitbewohner/innen.

Um das Zusammenleben übersichtlich zu gestalten, gab es feste Regeln. Dazu gehörte eine Beliebtheitsstruktur, die hierarchisch aufgebaut war und jede Woche neu festgelegt wurde. Jedoch schien alles spielerisch und locker zu funktionieren, was mich anfangs sehr beeindruckte. Jeden Abend versammelten wir alle uns in einem großen Saal zur Selbstdarstellung. Jede/r hatte die Chance, in die Mitte zu treten und seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Man durfte (fast) alles: pantomimische Bewegungen, lachen, weinen, schreien, nur nicht reden. Eben sich in seiner jeweiligen Gefühlslage so darzustellen, dass die anderen erkennen konnten, was man ausdrücken wollte. Das wichtigste dabei waren eben nicht die anderen, sondern dass man durch diese Selbstdarstellung seine eigenen Gefühle „loslassen“ konnte. Ich fühlte mich jedenfalls immer gelöst und befreit danach. Außerdem machten wir häufig Rollenspiele, wir malten zusammen oder bildeten uns in Geschichte und Literatur weiter. Wir lasen gemeinsam philosophische Abhandlungen und diskutierten darüber. Die Organisation und Leitung übernahm jeweils ein Gruppenleiter, der am Friedrichshof in Österreich ausgebildet wurde und vierteljährlich wechselte.

Das Beste an dieser Art zu leben war die lebendige Gemeinschaft mit Menschen, die ähnliche Ansichten vom Leben hatten. Ja, auch die Sexualität habe ich genossen in dieser unkonventionellen Art. Ich schlief abwechselnd mit allen Männern der Gruppe, die alle jünger waren als ich. Ich genoss vor allem das Gefühl, begehrt zu werden. Am meisten gefiel mir, dass ich mich an keinen einzelnen der Männer binden musste, von keinem abhängig war. Es war wie eine Ehe mit vielen. Wo blieb denn dabei die Liebe, mögen sich manche fragen? Für mich war zu dieser Zeit die Liebe in einer Zweierbeziehung nicht nur wegen der Gruppenideologie tabu, sondern ich glaubte auch wirklich, dass die romantische Liebe nichts als eine Illusion ist.

Etwa ein Jahr lang fühlte ich mich wohl in diesem Experiment einer gelebten Utopie. Ich glaubte, zu einer Elite zu gehören, die sich über das normale bürgerliche Leben hinaus weiter entwickelt hatte. Gerne hätte ich damals dieses Lebensmodell allen Menschen verkündet und sie bewogen, es uns gleich zu tun. Doch nicht nur da erlebte ich die Grenzen der Freiheit, da erfuhr ich, dass die Ideologie dieser Organisation von dem Gründer Otto wichtiger war als die Freiheit der einzelnen Mitglieder. Im zweiten Jahr meines Kommunelebens fühlte ich mich zunehmend in meiner Freiheit beschnitten. Mir wurde immer mehr bewusst, dass diese Kommune, ohne religiös zu sein, sektenähnliche Strukturen aufwies. Es fand dort eine permanente Gehirnwäsche statt, der man sich nicht entziehen konnte. Das geschah zum Beispiel dadurch, dass alles, was Otto, der Begründer der Bewegung, sagte oder tat, sozusagen „heilig“ war, unantastbar, nicht wirklich kritisiert oder hinterfragt werden durfte. Jede/r, der/die das versuchte, bekam die Folgen durch Mobbing und Ausschluss aus der Gemeinschaft schmerzhaft zu spüren.

Nach zwei Jahren zerplatzte meine Utopie, ich zog aus der Kommune aus! Es war nicht leicht für mich, all meine Träume und Visionen des idealen Zusammenlebens hinter mir zu lassen. Es erschien mir anfangs wie ein Abstieg von einer Anhöhe in die Niederungen des ganz normalen bürgerlichen Daseins. Doch nachdem ich allmählich die Reste der ideologischen Irrungen aus meinem Bewusstsein aussortiert hatte, gelang es mir, auf neue, weniger spektakuläre Art meine ganz eigene Freiheit zu finden.

Trotz allem waren diese beiden Jahre eine sehr wichtige Zeit in meinem Leben. Geblieben ist die Sehnsucht nach einem Leben in Gemeinschaft mit anderen. Zum Glück gibt es heute viele neue Bewegungen in dieser Richtung, die den einzelnen Menschen ihre Individualität lassen und trotzdem Gemeinschaft ermöglichen.

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

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Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: Abbey Bluestone, 73 Jahre