Je suis Karl

Filmkritik: Über die Macht der Verführung oder Wie die Neue Rechte sich in hipper Verkleidung an junge Leute heranmacht

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Maxis Familie gehört zu den „Gutmenschen“: Ihre Eltern helfen einem jungen Flüchtling, nach Deutschland zu kommen, sind menschlich, einfühlsam und eine ganz „normale“ Familie mitten in Berlin. Als ein Bombenanschlag nicht nur ihr Zuhause zerstört, sondern ihre Mutter und ihre zwei kleinen Brüder jäh aus dem Leben reißt, zerbricht für Maxi und ihren Vater, die zu dieser Zeit nicht im Haus waren und den Anschlag überleben, eine Welt. Nichts, aber auch gar nichts ist wie vorher. Maxi irrt durch die Straßen wie betäubt und versteht die Welt nicht mehr. Obwohl nicht klar ist, wer hinter dem Paketbombenanschlag steckt, mutmaßt die Presse, dass es sich um einen islamistischen Terrorakt handeln könnte.
Auf der Flucht vor Pressefotografen rettet sich Maxi in einen Klamottenladen, wo sie auf den smarten Karl trifft, der sich als empathischer Retter darstellt und ihr hilft, unerkannt vor den Paparazzi davonzukommen. Als er ihr anbietet, mit ihm nach Prag zu einer europäischen Jugendkonferenz zu reisen, macht sie sich tatsächlich dorthin auf den Weg, um auf andere Gedanken zu kommen und ihrer bleiernen Trauer zu entkommen.
Auf der sogenannten Summer Academy trifft sie auf eine geschäftige, quirlige und begeisterte Masse junger hippe Leute aus ganz Europa. Karl hält die Begrüßungsrede und beginnt sie mit einer Schweigeminute für die Opfer des Terroranschlags in Berlin. Anschließend schwört er die Zuhörer_innen auf eine „sichere Gesellschaft in Europa“ ein, die „solchen Tätern“ keinen Platz bieten dürfe. Schnell wird klar, dass seine Bewegung mit dem Namen „re/Generation“ sich für ein Europa einsetzt, dass sich abschotten will gegenüber Einwanderung, weil es darum gehe,“ in Freiheit und mit den gleichen Werten leben zu können“. Und genau dies sehen sie bedroht durch Geflüchtete und Einwanderer_innen. Als Maxi Karls hippe Freund_innen kennenlernt, erfährt sie, dass es auch enge Kontakte gibt zu Odile Duval, einer rechten französischen Politikerin. Zusammen mit Karl und seiner Gruppe fährt sie zu einem Referendum, bei dem die Situation eskaliert und sich das wahre Gesicht der Neurechten auf blutige Weise zeigt.

Gin statt Springerstiefel

Der Filmtitel „Je suis Karl“ spielt ganz bewusst auf die Solidaritätsbekundung mit den Mitarbeiter_innen der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo an, die bei dem 2015 verübten islamistischen Anschlag getötet wurden. In diesem Film entwickelt sich der Satz „Je suis Karl“ allerdings zu einem regelrechten Schlachtruf, den die rechtsradikalen, europaweit vernetzten Jugendbewegungen dazu nutzen, einen Straßenkrieg anzuzetteln, der mit einer tödlichen Jagd auf migrantisch gelesene Menschen endet.
Besonders aufrüttelnd an dem Film ist, wie es bei dem Regisseur Christian Schwochow gelingt, die „moderne“ rechtsradikale und identitäre Szene nicht als Springerstiefel tragende, grölende Meute darzustellen, sondern den Zuschauer_innen klarzumachen, dass das neue Image der Rassist_innen und Rechtsradikalen als moderner Lifestyle daherkommt, mit „Gin, rein aus europäischen Zutaten“ oder cooler Musik, gespickt mit den mörderischen Wertvorstellungen wie zum Beispiel „Todesstrafe für ausländische Straftäter“.

Besonders die Rolle, die junge Frauen in rechtsextremen und identitären Netzwerken heute einnehmen, kommt hier gut zur Geltung. Im Film inszenieren sie sich als Vergewaltigungsopfer ausländischer Männer (was sie aber nur erfinden) und raunen in die Kamera: "Ich habe Angst! Niemand beschützt uns!" Mithilfe dieser Videoclips verbreiten sie auf den social media-Kanälen Fake-News in Massen und ködern damit neue Anhängerinnen. Ganz so wie im realen Leben, denn die vermeintliche Frauenbeschützer-Masche setzen Identitäre tatsächlich ein, um ihre völkische Ideologie zu verbreiten.

Für mich gehört der Film nicht nur ins Kino, sondern auch in die Schulen und in die Jugendzentren, weil er auf spannende Art und Weise zeigt, wie die Neue Rechte auf Mitgliederfang geht: modern, verführerisch, psychologisch geschickt und absolut perfide. Und die beiden Hauptdarsteller_innen Luna Wedler als Maxi und Jannis Niewöhner als Karl sind eine großartige Besetzung!

Meine Empfehlung: Unbedingt reingehen!

Autorin / Autor: Rosi Stolz - Stand: 22. September 2021