Die Unschuldigen

Autor: Jürgen Seidel

Buchcover

In dem Roman "Die Unschuldigen“ von Jürgen Seidel geht es um ein nationalsozialistisches Mordkommando kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieses "Unternehmen Karneval“ hat den Auftrag, den Aachener Oberbürgermeister Franz Corneli, der mit den Alliierten Besatzern kooperiert und somit als Verräter gilt, zu liquidieren. Zu diesem Kommando gehört auch die 19-jährige Heidrun. Die überzeugte Nationalsozialistin bekommt allerdings Zweifel an der Tat und sagt sich von dem Unternehmen los. Der Oberbürgermeister wird trotzdem von anderen Mitgliedern ihrer Gruppe ermordet und Heidrun befindet sich nun auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit und ihrer Zugehörigkeit zum SS-Kommando. Verschlimmernd kommt hinzu, dass sie sich unwissend in Cornelis' Sohn Manfred verliebt hat. Dieser ahnt nichts von ihrer Schuld und träumt von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr...

Der Roman beschreibt sehr detailliert die deutsche nationalsozialistische Untergrundbewegung, die sogenannte "Werwolf“-Aktion. Jürgen Seidel präsentiert viele Informationen über die nationalsozialistische Erziehung der deutschen Jugend sowie über den Druck und den Drill, dem deutsche Jugendliche ausgesetzt waren. Hierbei wird deutlich, dass diese Erziehung sehr wirkungsvoll war und viele Anhänger wirklich an einen Fortbestand des Reiches glaubten und dem Führer sowie Militär begingungslos gehorchten. Anhänger wie Heidrun lebten in dem Glauben, ihre Widerstandsbewegung gegen die Alliierten als Beitrag zum deutschen Endsieg sei richtig, und auch ein Mord aus Rache an einem "Verräter“ dürfe geschehen. Es wird deutlich, dass es keinerlei Reflektion der eigenen Taten und der nationalsozialistischen Ideologie gab und dass auch Menschen existierten, die wirklich an das Heil des "Führers" für das deutsche Reich und Blut glaubten. Grade dieses Bild ist sehr erschreckend und macht auch deutlich, dass es sehr schwer ist, jeden einzelnen Deutschen zu einem nationalsozialistischen Täter zu stigmatisieren. 

Gleichzeitig illustriert das Buch eindringlich, dass der Nationalsozialismus in Deutschland sich nicht nur auf gesamte Bevölkerungsgruppen, die von den Nazis angegriffen oder vernichtet worden waren, auswirkt, sondern auch viele persönliche Einzelschicksale betrifft, die oftmals in den Geschichtsbüchern nicht beachtet werden. Die Geschichte von Heidrun und Manfred wird abwechselnd aus deren Sicht erzählt, und somit hat der Leser einen Gesamtüberblick über die Lage. Dieser Kunstgriff schürt die Spannung in der Geschichte und die Dramatik der Liebe zwischen einer entflohenen Attentäterin und dem Sohn ihres Opfers. Je mehr Manfred Heidrun vertraut und sich für sie einsetzt, desto mehr leidet der Leser mit ihr und ihrer schrecklichen Lebenslüge über ihren Beitrag zum "Unternehmen Karneval“.

Ich kann dieses Buch allen Lesern weiterempfehlen, die sich für den Zweiten Weltkrieg, die erste Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs und die jüngere deutsche Geschichte interessieren. Der Roman verbindet gekonnt eine tragische Liebesgeschichte mit vielen Informationen über die amerikanische Besatzung in Aachen und das Leben der Bevölkerung im zerstörten Deutschland. Doch trotz der Liebesgeschichte ist der Roman keine leichte Kost und kann dem Leser auch ganz schön an die Nieren gehen. Die realitätsnahe Beschreibung der deutschen Geschichte lässt einen auch nach dem Lesen nicht direkt wieder los. Das Buch regt vor allem an, sich mit Menschen wie Heidrun näher zu beschäftigen und sich zu überlegen, welchen Status sie in der Geschichte einnehmen: Sind sie Opfer, weil sie immer gelernt haben, an den Nationalsozialismus und an den Führer zu glauben und durch diese Erziehung geschult einen Mord begehen? Oder sind sie Täter, weil sie völlig frei und ohne Gewissensbisse über Leben und Tod eines anderen Menschen entschieden haben?

Der Roman "Die Unschuldigen“ ist sehr lesenswert und trägt, wie ich finde, dazu bei, dass der Leser sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt. Die Lektüre setzt allerdings voraus, sich auch persönlich mit der Schuldfrage der jüngeren deutschen Geschichte beschäftigen zu wollen.

*Erschienen bei: CBJ Verlag*

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Autorin / Autor: hanami - Stand: 10. April 2012