Die Harpyie

Autorin: Megan Hunter
Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen

Lucy und Jake leben mit ihren beiden Söhnen in einer englischen Kleinstadt. Vielleicht schauen die Kinder ein bisschen zu viel fern und vielleicht ist das Essen, das Lucy zubereitet, nicht immer das aufregendste, aber wo ist es das schon? Doch dann bekommt Lucy einen Anruf, der alles verändert. Am Telefon ist der Mann einer Arbeitskollegin von Jake, der ihr verrät, dass die beiden eine Affäre haben.

Bis hierhin ist das Buch von Megan Hunter noch nicht wirklich anders als andere Bücher, die sich um Familien, Rollenbilder und Paardynamiken drehen. Aufsehenerregend ist jedoch der Schreibstil. Die Kapitel sind kurz und selbst wenn es um emotionale Momente geht, eher nüchtern geschrieben.  Klar, es fällt einem als Leserin schon jetzt recht leicht, sich in Lucy hineinzuversetzen. Selbst dann, wenn die eigene Lebensrealität meilenweit von ihrer entfernt ist.

Doch es geht in „Die Harpyie“ nicht um eine enttäuschte Liebe. Lucy konfrontiert Jake und statt ihre Beziehung aufzugeben entscheiden sich die beiden dafür, dass sie es ihm heimzahlen darf. Nicht mit gleicher Münze, sondern drei Mal auf unterschiedliche Art. Klar ist nur, dass die Rache unerwartet, unabgesprochen und schmerzhaft ist. Was zunächst nach einem Buch über sadistische Sexualpraktiken klingt, entpuppt sich als kluger Roman über gesellschaftliche Rollen, Pflichten und Wünsche von Frauen.

Klar, es hat etwas Fieses, wenn Lucy kalt davon berichtet, wie sie sich an Jake rächt. Gleichzeitig sorgen Jakes Seitenhiebe und Sticheleien dafür, dass man seine Frau innerlich anfeuern möchte, es ihm heimzuzahlen. Und sich dann fragt, ob an Lucys Sorge etwas dran ist. 
Diese Sorge findet sich vor allem zwischen den Kapiteln, die davon berichten, wie Jakes und Lucys Ehe verläuft. Denn dort baut Megan Hunter immer wieder kurze Abschnitte ein, die sich um die Vergangenheit von Lucy drehen. Insbesondere geht es um ihre Faszination für Harpyien, die sie zugunsten ihrer Familie aufgegeben hat. Doch Lucys Faszination für diese wundersamen Geschöpfe zwischen Frau, Bestie und Engel kehrt zurück und wird mit jedem Racheakt und jedem verletzten Gefühl stärker und grenzt an eine Identifikation mit diesen
geflügelten Wesen.

Diese kurzen Einschübe waren der einzige Wermutstropfen des ansonsten sehr faszinierenden Buchs. Zwar waren die Rückblenden in die Vergangenheit eine hilfreiche Kontrastfolie, um Lucys aktuelle Gemütsverfassung zu verstehen, sie waren mir aber teilweise etwas zu kurz oder abrupt. Plötzlich tauchen tiefe Schatten aus Lucys Vergangenheit auf, die in meinen Augen nur bedingt etwas mit der Geschichte an sich zu tun hatten. Mir persönlich hätten ein, zwei Schicksalsschläge weniger auch gereicht, um mit der Protagonistin mitzufiebern.

Die Harpyie ist ein Buch für alle, die sich dann und wann fragen, zu was sie eigentlich fähig wären und für die, die da schon eine diffuse Ahnung haben. Es ist ein Buch für Menschen, die Geschlechterrollen hinterfragen und die Lust auf eine Geschichte mit einer starken Protagonistin haben, mit der man sich manchmal stärker identifiziert als einem lieb ist.

*Erschienen bei C.H.Beck*

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Autorin / Autor: karla94 - Stand: 16. April 2021