"Wir dürfen keine ADHS-Generation fabrizieren"

Barmer GEK Arztreport 2013: ADHS-Diagnosen und Ritalin-Verordnungen boomen

In Deutschland wächst offenbar eine "Generation ADHS" heran: Unter Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahren – so der in Berlin vorgestellte Arztreport 2013 der Barmer GEK – kletterte die Zahl diagnostizierter Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) zwischen 2006 und 2011 von 2,92 auf 4,14 Prozent. Das entspricht einem Zuwachs von 42 Prozent. Altersübergreifend ist der Bevölkerungsanteil mit einer ADHS-Diagnose sogar um 49 Prozent gestiegen.

Im Jahr 2011 wurde ADHS bei rund 750.000 Personen festgestellt (552.000 Männer, 197.000 Frauen). Das Gros entfiel auf die Altersgruppe bis 19 Jahre. Besonders viele Diagnosen wurden zu Ende des Grundschulalters vor dem Übergang auf weiterführende Schulen gestellt, so die Reportautoren Dr. Thomas G. Grobe und Prof. Dr. Friedrich W. Schwartz vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) in Hannover. Dies könne unter anderem auch die Erwartungshaltungen der Eltern widerspiegeln. "In Deutschland wird immer häufiger ADHS diagnostiziert, obwohl das öffentliche und fachliche Bewusstsein für dieses Erkrankungsbild bei uns schon seit mehr als einem Jahrzehnt hoch ist", so Schwartz.

Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Barmer GEK, sieht die Entwicklung der Diagnoseraten mit Sorge: "Dieser Anstieg erscheint inflationär. Wir müssen aufpassen, dass ADHS-Diagnostik nicht aus dem Ruder läuft und wir eine ADHS-Generation fabrizieren. Pillen gegen Erziehungsprobleme sind der falsche Weg." Es komme auf trennscharfe Diagnosen an. Außerdem gebe es eine Reihe von Therapieoptionen wie zum Beispiel ein effektives Elterntraining oder Verhaltenstherapie. "Ritalin darf nicht per se das Mittel der ersten Wahl sein."

*Junge Eltern überfordert?*
Die Wissenschaftler aus Hannover ermittelten erstmals auch einige Einfluss-Faktoren, die mit den Eltern zusammenhängen. Demnach gibt es mit steigendem Ausbildungsniveau und Eiokommen der Eltern ein sinkendes Risiko, an ADHS zu erkranken. Kinder arbeitsloser Eltern sind hingegen häufiger betroffen. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Kinder jüngerer Eltern öfter betroffen sind als diejenigen von Eltern mittleren Alters. So erhalten Kinder mit einem Elternteil im Alter zwischen 20 und 24 Jahren etwa 1,5 mal häufiger eine ADHS-Diagnose als Kinder mit Eltern zwischen 30 und 35 Jahren. "Ob das an einer größeren Gelassenheit von Eltern im fortgeschrittenen Alter liegt oder an Erziehungsproblemen jüngerer, bleibt offen", sagt Schlenker.

*ADHS-Hochburg Würzburg*
Auffällig sind auch die regionalen Unterschiede, wobei die Region Würzburg hervorsticht, so Grobe. Während die ADHS-Diagnoserate bei Jungen im Alter von zehn bis zwölf Jahren im Jahr 2011 im Bundesdurchschnitt bei knapp 12 Prozent lag, haben Ärzte in Unterfranken diese Diagnose bei 18,8 Prozent der Jungen dieser Altersgruppe gestellt. Bei Mädchen waren es bundesdurchschnittlich ca. 4 Prozent gegenüber 8,8 Prozent in Unterfranken. Bei der Arzneimitteltherapie tritt der Unterschied noch deutlicher zutage: Im Alter von zehn bis zwölf Jahren erhielten bundesweit rund 6,5 Prozent der Jungen eine Verordnung – in Unterfranken waren es mit 13,3 Prozent mehr als doppelt soviel (Mädchen ca. 5,5 Prozent vs. 2 Prozent im Bundesdurchschnitt). "Auffällig sind jedenfalls die gegenüber dem Bundesdurchschnitt höheren Diagnoseraten der Hausärzte und speziell der Kinder- und Jugendpsychiater." Letztlich blieben die Ursachen für den ADHS-Boom im Raum Würzburg aber unklar, so Schlenker.

*Jeder fünfte Junge mit ADHS-Diagnose, jeder zehnte mit Ritalin-Rezept*
In der bundesweiten Verlaufsbetrachtung erhöht sich der Anteil noch einmal: So waren fast 20 Prozent aller Jungen, die im Jahr 2000 geboren wurden, zwischen 2006 und 2011 von einer ADHS-Diagnose betroffen. Bei den Mädchen dieses Jahrgangs waren es 7,8 Prozent.

Die Verordnungsraten von Methylphenidat, besser bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin, sind zwischen 2006 und 2011 gestiegen, wobei die Menge der verordneten Tagesdosen nach 2010 erstmals zurückging. Die höchsten Verordnungsraten finden sich im Alter von elf Jahren. In diesem Alter erhielten 2011 rund 7 Prozent der Jungen und 2 Prozent der Mädchen eine Verordnung. Im Laufe der Kindheit und Jugend dürften damit schätzungsweise 10 Prozent aller Jungen und 3,5 Prozent aller Mädchen mindestens einmal Ritalin erhalten.

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Autorin / Autor: Pressemitteilung/ Redaktion - Stand: 30. Januar 2013