So wüst und schön sah ich noch keinen Tag

Autorin: Elizabeth LaBan
übersetzt von Birgitt Kollmann
ab 13 Jahren

Buchcover

„So wüst und schön sah ich noch keinen Tag“ („The Tragedy Paper“) ist der Debütroman von Elizabeth Laban. Die englische Version erschien Anfang 2013, die deutsche Ausgabe drei Jahre später. Mittlerweile hat Laban bereits ihren zweiten Roman („The Restaurant Critic’s Wife“) veröffentlicht, bisher jedoch nur auf Englisch. Bevor Laban begann Bücher zu schreiben, war sie für den Nachrichtensender NBC News und verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig. Sie lebt mit ihrem Mann, einem gelernten Koch, und ihren zwei Kindern in Philadelphia.

Die Geschichte beginnt mit Duncans erstem Tag als Senior: Er ist gerade in die zwölfte Klasse gekommen, vor ihm liegt das letzte Jahr High School am renommierten Irving Internat, das vor allem für seine Werte und Traditionen bekannt ist. Eine davon sind die Schätze, die die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklasse ihren Nachfolgern in deren neuen Zimmer hinterlassen. Wie jedes Jahr sorgt das Entdecken der verschiedenen Schätze für Aufregungen und Überraschungen – es gibt keine Regeln, von verschimmelter Pizza bis zu einem Hundewelpen soll es alles schon einmal gegeben haben. Entsprechend enttäuscht ist Duncan, als er in seinem Zimmer einen Stapel besprochener CDs findet. Durch einen handgeschriebenen Brief erfährt er, wer der vorherige Bewohner seines Zimmers war und was es mit den CDs auf sich hat: Tim Macbeth. Duncan kennt Tim. Zumindest weiß er, wer Tim ist. So ziemlich jeder Schüler des Irving Internats weiß, wer Tim ist: Er ist ein Albino, ein Einzelgänger, der nur ein Jahr am Irving Internat verbracht hat. Trotzdem hat er es zu trauriger Berühmtheit erlangt, denn beim großen Spiel seines Jahrgangs, einer weiteren Tradition des Internats, gab es einen schlimmen Zwischenfall, in den Tim verwickelt war. Nur wenige Schüler außerhalb von Tims Jahrgang wissen genau, was eigentlich vorgefallen ist. Duncan ist einer von ihnen. Und als er beginnt, die CDs anzuhören, die Tim ihm hinterlassen hat, beginnt er zu begreifen, dass das, was er wusste, nur ein Bruchteil der Wahrheit war, nur die Spitze des Eisbergs. Dass die eigentliche Geschichte, die Hintergründe der Geschehnisse beim großen Spiel, viel weiter reichen als er es sich jemals vorstellen konnte. Duncan versucht, aus Tims Fehlern zu lernen und es selbst besser zu machen. Dabei geht es um Liebe und Freundschaft, um Wagnisse und Risiken, um Chancen und Furcht.

Neben zwischenmenschlichen Problemen müssen sich sowohl Tim als auch Duncan auch mit ganz „normalen“ Dingen beschäftigen: Jeder Senior muss in seinem letzten Jahr ein berüchtigtes „Tragedy Paper“ schreiben, also einen Aufsatz zum Thema Tragödie. Dieses Motiv wird im Laufe des Romans immer wieder aufgegriffen und wird zu einem roten Faden, anhand dessen Tim versucht, einzuordnen und zu bewerten, was ihm widerfährt. Dabei werden Bezüge zur klassischen Tragödie in fünf Akten deutlich, so spielt sich fast die komplette Handlung des Romans innerhalb des Internats ab; es herrscht also eine Einheit des Ortes. Diese Einheit des Ortes führt auch dazu, dass Verbindungen zwischen Personen entstehen, die sich eigentlich nie begegnen. Außerdem gibt es auch direkte Verweise auf ein bestimmtes Drama: Der Buchtitel selbst ist ein Zitat aus Macbeth, die Namen der beiden Hauptcharakter (Macbeth und Duncan) stammen ebenfalls aus Shakespeares Feder.

Im Buch wird aus zwei Perspektiven erzählt: Die aktuelle Handlung erfahren wir als Leser durch Duncan, was in der Vergangenheit passiert ist, erzählt uns Tim durch die besprochenen CDs, die sich Duncan nach und nach anhört. Diese beiden Zeitebenen sind zunächst etwas verwirrend, da sie einige inhaltliche Parallelen aufweisen. Nach kurzer Zeit heben sich die beiden Erzählebenen jedoch klar voneinander ab. Meiner Meinung nach ist diese Art der geteilten Erzählung hier sehr gut gelungen; als Leserin hatte ich keine Vorlieben, ich hatte nicht das Gefühl mich durch einzelne Kapitel quälen zu müssen, um endlich wieder zu einem Perspektivenwechsel zu kommen – stattdessen konnte ich sowohl die Erzählungen von Duncan, als auch die von Tim genießen. 

Ein wichtiges Thema, das Tim anspricht und das auch von Duncan weiter ausgeführt wird, ist Tragweite. Welche Folgen haben die Dinge, die wir tun? Und die, die wir nicht tun? Bestimmt hat jeder von uns schon einmal durch Zufall etwas erlebt oder jemanden kennen gelernt, wodurch sich das eigene Leben nachhaltig verändert hat. Stellt euch vor, das wäre nie passiert, und ihr hättet nie davon erfahren. Wie oft ist euch durch eine Kleinigkeit, die ihr entschieden habt, wohl etwas Entscheidendes entgangen, hat sich der Lauf eures Lebens verändert? Diese Fragen stellen sich nicht nur im Rahmen des Buches, sondern folgen einem auch im eigenen Alltag. Sie lassen einen aufmerksam werden und Dinge mit Bedacht tun; sie schaffen ein Bewusstsein und einen gewissen Respekt vor den Eventualitäten des Lebens, die uns meistens verborgen bleiben. Das hat mir sehr gut gefallen und mich berührt: „Aber ist das nicht immer so? Oder zumindest oft? Welche Tragweite eine Entscheidung hat weiß man oft erst, wenn alles vorüber ist.“ (S. 227)

Insgesamt gelingt es Laban, beim Lesen eine gewisse Magie entstehen zu lassen, die mich sehr an „Solitaire“ von Alice Oseman erinnert hat. Die gesamte Handlung des Romans ist von einer solchen Authentizität geprägt, dass ich nicht das Gefühl hatte ein Buch zu lesen, sondern wirklich eine Geschichte erzählt zu bekommen – von einem echten Menschen, von einer Freundin, von jemandem, der so denkt und fühlt wie ich. Die Welt der Romanfiguren ist auch meine Welt, es bedarf nicht großer Erklärungen, denn ich erkenne Elemente aus meinem eigenen Leben: An jeder Schule gibt es die coolen, populären Kids und die Außenseiter. Natürlich ist es uns egal was die Leute von uns denken, und trotzdem sind die schönen, attraktiven Menschen in der sozialen Rangordnung an der Spitze, für sie gelten andere Regeln. Tim gelingt es, diese ungeschriebenen Gesetze in Worte zu fassen, die einfach sind und verständlich, und gleichzeitig Unbeschreibbares ausdrücken: „Sie hatte also einen Freund. Natürlich. Mädchen wie sie hatten immer einen Freund. Und diese Freunde waren nie wie ich.“ (S. 60).

Meiner Meinung nach hat Laban mit „So wüst und schön sah ich noch keinen Tag“ ein außergewöhnliches Werk geschaffen. Mich fasziniert die formale und inhaltliche Verbindung zum klassischen Drama in fünf Akten. Auch die Handlung selbst hat mir gefallen, statt einer klischeehaften Liebesgeschichte erzählt die Autorin von zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich echt anfühlen und verwirrend sind, die Leid verursachen und trotzdem Sehnsucht auslösen.

*Erschienen bei Hanser Verlag*

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Autorin / Autor: lacrima - Stand: 7. März 2016