Wenn es so bleibt bin ich zufrieden

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Der Alte lenkt seinen Rollstuhl vorbei an Bett und Schrank, so, dass er die Tür zum Flur des Pflegeheims im Auge behält, obwohl Schwester Nina es sicher gut mit ihm meint, wenn sie ihn stets wieder ins Helle, ans Fenster schiebt. Doch er hatte schon immer gern alles im Blick, jetzt ist es eben nur noch eine Türklinke, die allerdings eher selten heruntergedrückt wird, sieht man vom ständigen Hin und Her der Wisch- und Waschlappen, der Wasserflaschen und der Wäsche- und Windelpakete ab. Senkt sich dreimal am Tag der Türgriff ganz behutsam, schenkt er sowohl den Weißkitteln wie auch dem Essenstablett ein strahlendes Lächeln, denn Essen hat ihm seit jeher Freude gemacht. Die Floskel, …na, wie ist es Herr Kamp? beantwortet er stets mit, nu, wenn’s so bleibt bin ich zufrieden. Prima, antwortet die Stationshilfe und schiebt ihn an den Tisch. Hmhm, Würstchen!  Herr Kamp leckt sich die Lippen und trommelt auf seine Schenkel. Nee, nix immer Würstchen, Herr Kamp, heute gibt’s Gemüse, is auch lecker und ganz gesund. Während ihm der Schlabberlatz umgebunden wird, schiebt er seine Nase tief über den Teller. Doch ob er die grünen und gelben Kleckse als Spinat und Rührei erkennt, ist nicht gewiss - Würstchen sind es auf jeden Fall nicht. Aber auch das weiß er nicht mehr, als das kaum angerührte Essen abgeräumt wird. Na, Herr Kamp, hat nix geschmeckt heute, oder soll ich helfen – füttern? Er hört es nicht.

Seit sein Geist geradezu verbrettert zu sein scheint, kann er nicht mal mehr ausdrücken, an oder über was er sich noch freuen könnte. Ganz anders als früher, als sein Leben noch ein Gestern, ein Morgen und ein Jetzt hatte. An den Tagen, an denen seine Tochter mit lautem, Hallo Paps, ich bin’s, na, wie geht’s denn heute? zur Tür herein kommt, erkennt und begrüßt er sie kaum noch als seine Gisela, sein Mädele. Aber immer schmettert er, nu, wenn’s so bleibt bin ich zufrieden, egal ob er sie Susanne, Klärchen oder wie auch immer nennt - wenn ihm überhaupt ein Name einfällt. Obwohl Gisela Kamp weiß, wie es um ihren Vater steht, muss sie immer wieder schlucken, wenn sie ihn so vor sich hinstarren sieht, und sie sich wieder nicht wird unterhalten können über sich, ihre Sorgen und ihre Gedanken darüber, wie erstrebenswert es überhaupt ist – das Alter. In den Stunden, in denen sie mit dem Vater, der, nun nahe ans Fenster gerollt, auf das ihm immer noch fremde Gegenüber starrt, bemüht sie sich, ihm Splitter aus seinem langen und bewegten Leben zu entlocken. Wieder und wieder bohrt sie: Paps-weiß-du-noch, singt, Im Märzen der Bauer, summt den Radetzkymarsch, blättert durch vergilbte Fotoalben, oder deutet auf einen flatternden Goldfalter vor der Scheibe. Nichts. Nichts mehr ist ihm vertraut. Nichts an seiner Tochter, die sich wieder im Schottenröckchen in seiner Würstchenbude stehen sieht, wo er ihr, groß und stämmig, mit vollem Haar und durchdringender Stimme, zwei Wienerle oder eine Gebratene mit Ketchup anbietet. Seufzend streicht sie ihm über den kahl gewordenen Schädel und fleht in seine eingefallenen Wangen, Paps, hier, ich hab uns Käsekuchen gebacken, den mochtest du doch … Sie packt die Plastiktüte aus, doch er stößt mit lautem Gebrüll Würstchen-Würstchen hervor und fegt die Kuchenstücke vom Tisch. 

Schwester Nina steckt den Kopf durch die Tür und sagt: Ach Sie sind hier, ich dachte schon, es sei was passiert! Mit beruhigendem Lächeln wendet sie sich ihrem Hausgast zu, der seinen plötzlichen Ausbruch längst vergessen hat und, nu, wenn’s so bleibt bin ich zufrieden, murmelt. Ja, Herr Kamp, was wollen wir mehr, wenigstens einer, der immer zufrieden ist. Schwester Nina tätschelt seine Schulter, und mit Blick auf den Kuchenmatsch am Boden sagt sie, naja, eigentlich ist er ja ganz pflegeleicht, wenn nur nicht dieses Theater mit dem Essen wäre. Immer nur Würstchen-Würstchen, schon beim Frühstück fängt das an und manchmal sogar mitten in der Nacht. Ja, aber dann geben Sie sie ihm doch …, sagt Frau Kamp. Oh nein, wo denken Sie hin, wenn da jeder seine Extrawurst, zudem haben wir unsere Küchenpläne, Nährwerttabellen, was meinen Sie welche Vorschriften … Also Ihr Vater, nie ist er mürrisch, nicht wahr, Herr Kamp, wir verstehen uns schon …, kniept sie ihm ein Auge worauf er nuschelt, nu, wenn’s so bleibt bin ich zufrieden. Doch gleich darauf schreit er wieder Würstchen-Würstchen. Paps, bitte, beruhigt ihn die Tochter, du bekommst jetzt deine Würstchen! Nicht wahr Schwester Nina, wenn das doch sein einziges Vergnügen ist. Diese rückt ihre Brille zurecht, bevor sie, Herrgottnochmal, versprechen kann ich aber nichts, knurrend das Zimmer verlässt. Doch erstaunlich schnell werden auf einem Tablett zwei kauweiche Brühwürstchen gebracht. Herr Kamp greift mit den Händen zu, beißt, mahlt, lacht und schluckt während der Speichel am Kinn herunter tropft. Beim zweiten Stück versucht er mit den Lippen die Füllung aus der Pelle zu drücken. Nein Paps, so nicht, wehrt seine Tochter ab, das ist keine Weißwurst die du auszuzzeln kannst, du musst abbeißen. Wurscht-Mädele-Weißwurscht, stößt er mit vollem Mund hervor, hustet, verschluckt sich und erzählt, nachdem der Mund wieder leer und abgewischt ist, klar und deutlich, wie gerne er Weißwürste mag und den süßen Senf dazu, und dass sich seine kleinen Nürnberger auf Kraut immer am besten verkauft haben. Und als habe er den längst verlorengegangenen Faden zu sich wiedergefunden, weiß er plötzlich Details aus einer Welt, die weder seine Tochter noch irgendwer in diesem Haus mit ihm erlebt hat – doch dann ist sie auch schon wieder verflogen, die Erinnerung, und er verlangt aufs Neue nach Würstchen. Diesmal kommt die Schwester ganz gemächlich, sagt, …nein-nein-mein-Herr, jetzt gibt’s keine Würstchen mehr, worauf Frau Kamp sie anherrscht: Nun machen Sie schon, bringen Sie ihm das, was er möchte. Warum kann er nicht essen was und wann er will; was bleibt ihm denn noch in diesem kümmerlichen Rest von Leben?

Als sich im Abenddämmern die Tochter verabschiedend zum Vater herunterbeugt, schlingt dieser seine knochigen Arme um ihren Hals und haucht, lieb-so-lieb. Oh Paps, sag das noch mal, bitte, sag’s noch mal! Doch längst haben wieder Nebelschleier seinen Geist verschluckt und kaum verständlich murmelt er, nu, wenn’s so bleibt bin ich zufrieden.

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

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Die Jury

Schöne Preise für die schönsten Einsendungen

Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: von Marianne Bruns, 67 Jahre