Kapitel 35

Dragosia - Die Macht der Elemente Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

„Oh, Entarna!“ Victoria sah in den sich aufhellenden Himmel. Sie fuhr ihrer Tochter abermals durch das Haar und lächelte sie an, doch unaufhörlich rannen ihr Tränen über die Wangen.
Drago hatte ihr eine kurze Zusammenfassung gegeben, was seit ihrem Tod und der anschließenden Verwandlung zu Amariter geschehen war. Es war bereits eine halbe Stunde vergangen. Bald würde das Gift seine Wirkung zeigen, dessen war sich Enya sicher.
Neró raufte sich die Haare. „Das kann doch nicht wahr sein! Wir müssen die Prophezeiung aufhalten!“
Enyas Mutter nickte zustimmend, löste ihre Hand aus den Haaren ihrer Tochter und stand auf. „Der Junge hat recht“, pflichtete sie Nerò bei. Dann wandte sie sich wieder mit zornerfülltem Gesicht Drago zu: „Du hast dafür gesorgt, dass sich die Prophezeiung erfüllt. Zuerst hast du mich getötet, und nun bist du für den Tod deiner eigenen Tochter verantwortlich!“
Drago zog die Lefzen zurück und spannte knurrend seine Flügel auf: „Ich habe versucht, sie zu retten, Victoria. Ich habe alles mit Enya abgesprochen, doch sie hielt sich nicht an unsere Abmachung!“
„Ach ja? Sie hat Dragosia gerettet, du herzloses Reptil!“, schleuderte Victoria zurück.
„Ich bin kein Reptil“, fauchte Drago. „Ich existiere lange, bevor die Klasse der Wirbeltiere auf der Erde überhaupt evolviert ist.“
Binnen weniger Sekunden entwickelte sich erneut ein Streit, diesmal zwischen Enyas Eltern.
„Statt die letzten Minuten mit dir zu verbringen, streiten sie sich“, seufzte Plum und sah seine Freundin bedauernd an.
Die Hüterin des Feuers merkte, wie ihr Herz bei den Worten einen angstvollen Satz machte.
Bald ist es soweit. Bald werde ich sterben.
„Enya.“ Nerós Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte nicht einmal bemerkt, wie der Hüter des Wassers näher getreten war. Seine strahlend blauen Augen waren von tiefer Trauer getrübt, als er leise sagte: „Es tut mir so leid für dich. Du hast das alles nicht verdient.“
Sie merkte, wie ihr Herz langsamer schlug. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass es nicht an Nerós Anwesenheit lag, denn dann würde es schließlich schneller schlagen. Das Gift zeigt seine Wirkung.
Ihr Blick wurde unschärfer und verschwamm einen Augenblick lang. Langsam setzte sie sich auf die Erde. Das Gras bewegte sich leise. Sie ließ ihre Finger durch die Blumen gleiten und spürte, wie ihre Haare vom Wind zerzaust wurden, wohlwissend, dass sie all das womöglich nie mehr spüren würde.
Neben ihr ging Neró in die Hocke. Enya blickte nach oben, in den Himmel, wie sie es so oft getan hatte. Unzählige Sterne funkelten in der milchigen Nacht. „Es sind so viele Sterne, dass der Himmel schon beinahe hell aussieht“, raunte sie. Nerò legte ihr eine Hand auf die Schulter und sie wandte sich ihm zu. Er blickte ihr fest in die Augen. Dann begann er leise zu lächeln, wenn auch etwas mühevoll.
Enya erinnerte sich, wie er bei ihrer Zeremonie das erste Mal auf diese Weise gelächelt und ihr das Kompliment gemacht hatte. Plötzlich wünschte sie sich, er würde ihr erneut auf irgendeine Art und Weise seine Zuneigung aussprechen, doch er starrte ihr nur in die Augen, bis sie in den endlosen blauen Tiefen zu versinken schien.
Enya wollte gerade verlegen ihren Blick abwenden, da sagte der Hüter des Wassers unbeirrt: „Vor dem Kampf mit Amariter wollte ich dir etwas sagen.“ Er machte eine Pause. „Du weißt ganz genau, warum ich mich am Anfang dafür entschieden habe, in Dragosia zu bleiben und nicht mehr in die Welt der Menschen zurückzukehren, oder?“
Enya wiegte kaum merklich den Kopf hin und her, obwohl sie die Antwort bereits erahnte.
„Wegen dir“, sprach Neró die Worte aus. Ein Lächeln, diesmal leuchtender, umspielte sein Gesicht. „Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ich gleich, dass du etwas Besonderes bist. So etwas habe ich bisher bei niemandem je gespürt.“
Enya fragte sich, wie er bloß so denken konnte. Sie wollte gerade den Mund aufmachen, um zu widersprechen, doch Neró warf die unausgesprochenen Worte mit einer abstreitenden Handbewegung beiseite.
„Wirklich, als ich in Dragosia ankam, habe ich mit allem gerechnet“, sagte er. Er fuhr sich durch seine vom Kampf zerzausten Haare, die vom Wind bewegt wurden. „Aber nicht mit der Tatsache, dass ich mich in jemanden verliebe. Bis ich dich gesehen habe. Du standest einfach da, als ich mit Aura und Jordan hier ankam, und zuerst habe ich versucht, das Gefühl zu unterdrücken, aber das war aussichtslos.“
Enya spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte. Ein seltsames Kribbeln breitete sich auf ihrer Kopfhaut aus, als ob unzählige Ameisen umherkrabbelten, und bevor sie wusste, was geschah, hatte der Hüter des Wassers ihre Hand ergriffen.
„Ich weiß“, erwiderte sie schließlich. Sie wusste, dass es so viel zu sagen gab, doch das war nicht ihre Stärke. Das war es nie gewesen. „Bei mir war es genauso.“

Eine Weile lang gab sie sich seinen leuchtenden blauen Augen hin, bis sie bemerkte, wie er sich langsam nach vorn beugte. Sie erkannte, dass sich auf seinen Wangen zahlreiche Sommersprossen befanden, die auf seiner sonnengebräunten Haut zu tanzen schienen. Und auf einmal spüre sie seine Lippen auf den ihren.
In ihrem Inneren schien ein Feuerwerk zu entfachen. Ihre Gedanken drehten sich wie ein Karussell und wirbelten in ihrem Kopf durcheinander wie in einer Waschmaschine, bis sie vergaß, dass sie bald sterben würde. In ihrem Bauch schienen unzählige Schmetterlinge zu flattern.
Und dann war der Moment vorbei. Langsam lösten sie sich voneinander.
Während Jordan scheinbar interessiert seine Fingernägel betrachtete, hatte sich Plums Mund zu einem leichten Lächeln verzogen.
Enya blickte zurück zu Neró, der sie ebenfalls anlächelte, und grinste zurück. „Ich danke dir“, wisperte sie.
Eines muss ich noch erledigen. Langsam stand sie auf. Neró stütze sie sachte von der Seite, und gemeinsam wandten sie sich Drago und Victoria zu.
„Hört sofort auf!“
Enyas Stimme riss die beiden Streitenden sofort aus ihrem Wortgefecht. „Ich möchte, dass ihr auf der Stelle Frieden schließt. Es sind meine letzten Minuten auf der Erde, und ich will, dass wir dabei nicht miteinander streiten.“
Drago und Victoria zögerten und sahen sich einen Moment lang schuldbewusst an, dann nickten beide und traten zu ihrer Tochter.
Beinahe im selben Moment spürte Enya, wie sich die Welt zu drehen begann.
Sie nahm war, wie sie auf die Erde stürzte. Der Schmerz blieb seltsamerweise aus. So, als wäre sie betäubt. Ihre Eltern und Freunde versammelten sich um sie und betteten sie sanft auf das weiche Gras.
„Versprecht mir, dass ihr nicht mehr streitet“, wisperte die Hüterin des Feuers.
Victoria nickte und streichelte sachte ihre Wange. „Meine mutige, heldenhafte Tochter“, flüsterte sie. Tiefe, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. „Es tut mir leid, dass wir uns nur kurze Zeit sehen durften. Ich habe dich so lieb. Über alles auf der Welt.“
Drago strich Enya mit einer eingezogenen Kralle eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte traurig. „Ich hätte mir keine bessere Tochter vorstellen können. Du verdienst Anerkennung, mein Schatz.“
Enya staunte bei den letzten Worten. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass er das einmal zu mir sagen würde.
„Deshalb werde ich die Drachenstatue hiermit zu deinem Denkmal erklären. Dieser Tag soll in den Köpfen der Bewohner Dragosias von nun an als Trauertag bekannt sein“, fuhr er fort. Eine Träne bildete sich in seinem linken Augenwinkel. „Enya, du hast heute unentbehrlichen Mut bewiesen. Die Kraft und die Macht eines jeden liegen in seinem Verstand und seinem Herzen. Du hast davon Gebrauch gemacht und nicht nur viele Menschenleben, sondern auch dieses Reich gerettet.“
Enya blinzelte langsam und lauschte einen Moment lang ihrem immer langsamer werdenden Herzschlag, der in ihren Ohren pochte, ehe sie ihrem Vater angestrengt weiter zuzuhören versuchte.
„Ich habe dir nie erzählt, was das Symbol Dragosias bedeutet. Die drei weißen Streifen bedeuten Mut, Ehre und Tapferkeit und münden letztendlich in der wahren, echten Liebe. Das ist das Mittel, mit dem böse Magie vernichtet werden kann und das immer zu Frieden verhelfen wird, und das wurde zum Wahrzeichen Dragosias. Die drei Balken sind die Mittel, die zum Auge des Symbols führen.“
Mit einem Mal verstand Enya. Sapiencias Hinweis war nichts anderes gewesen als die Erklärung des Dragasischen Symbols. Auch Neró musste davon gewusst haben.
„Und das Wort Dragosia hat eine dritte Bedeutung, Enya.“ Seine Stimme wurde sanft und lullte sie ein wie ein warmer Mantel. „Zum einen ist es das Reich, in dem wir uns in diesem Augenblick befinden. Die zweite Übersetzung in eure Sprache ist Charakterstärke. Und die dritte Bedeutung ist Würde. Und die hast du dir wirklich verdient. Alle drei Bedeutungen machen auch die Gesamtbedeutung des Dragasischen Wappens aus.“ Er machte eine Pause. „Du hast nicht nur Dragosia, sondern auch mich gerettet. Du hast mir die Fähigkeit zurückgegeben, Emotionen zu fühlen, Enya. Als die Menschen aus Angst vor Verlusten in ihren Reihen die Drachen töteten, befiel mich zum ersten Mal das Böse. Schließlich trieb es mich dazu, meine Geliebte umzubringen. Es ist tückisch. Du allein hast es geschafft, mich… zu bekehren. Dafür werde ich dir auf ewig dankbar sein, meine mutige, ehrenhafte und tapfere Tochter.“
Er trat zur Seite, und Plum erschien an seiner Stelle.

Enya lächelte und spürte, wie ihre Augenlider flatterten.
„Plum…“, flüsterte sie trotz ihrer trockenen Kehle und schluckte, um weitersprechen zu können. Die nächsten Worte kosteten sie große Überwindung. Zögerlich brachte sie die Frage über die Lippen, die sie schon immer brennend interessiert hatte: „Darf ich dich einmal streicheln?“
Der Fellball wollte sie entrüstet anblicken, entschied sich dann jedoch dagegen und trat einen weiteren Schritt näher.
Die Hüterin des Feuers streckte die Hand aus und ließ sie im seidenweichen, glänzenden Fell versinken. Ich hätte nie erwartet, dass es so dermaßen weich ist!
Plum blickte währenddessen verlegen in eine andere Richtung und schien mit seiner Gesichtsfarbe zu kämpfen, die etwas rötlich wurde. Als Enya die Hand sinken ließ, trat er einen Schritt zurück und verneigte sich vor ihr: „Heil dir, Hüterin des Feuers, Obere Beraterin Dragosias und meine beste Freundin. Du wirst ewig einen besonderen Platz in meinen Gedanken und Erinnerungen haben.“
Zuletzt verabschiedeten sich Neró und Jordan von ihrer sterbenden Freundin.
„Jordan.“ Enya sah den Hüter der Erde an. „Ich vermache dir hiermit meinen magischen Fernseher.“ Jordan lächelte niedergeschlagen. Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen grünen Augen.
„Und… Aura sagte vor ihrem Tod, dass es ihr leidtat, wie sie dich anfangs behandelt hat.“ Der Hüter der Erde nickte, er hatte verstanden. Dann blickte er ihr fest in die Augen. „Du bist der beste Mensch, den ich kenne, Enya. Wenn sich jemand einen Platz bei Entarna verdient hat, dann bist du es.“
Auf einmal ertönte erneut Plums Stimme dicht neben Enya: „Seht! Am Himmel! Drago, ist das möglich? Ich sehe neue Sterne, die vorher noch nicht dort waren… Sie scheinen eine Formation zu bilden…“ Die anderen schnappten hörbar nach Luft. Enya kniff die Augen leicht zusammen und schaute nach oben. Sie meinte, dort einige besonders funkelnde Sterne auszumachen, war sich aber nicht sicher. „Es scheint sich tatsächlich etwas Neues am Sternhimmel zu formatieren… das Sternbild einer Heldin“, hörte sie Drago erwidern. „Unglaublich“, raunte Jordan, „es sieht aus wie der Kopf eines Drachen!“
Enya fiel es schwer, der Unterhaltung zu folgen. Alles fühlte sich schwer an… Ich fühle mich so schwach. Als ob mich all meine Kräfte verlassen…

Sie spürte, wie sich Neró langsam neben ihr niederließ und ihr durchs Haar fuhr. Die anderen verstummten abrupt, als sie zu Enya sahen.
„Es wird alles gut. Du wirst sehen.“ Nerós Stimme war sanft, als er mit einer Hand über ihre Wange strich. „Entarna wartet auf dich, und Aura und Fidel…“ Er setzte etwas mühevoll ein warmes Lächeln auf, das sie wie Sonnenschein durchströmte.
Enya spürte, wie ihr langsam, aber sicher die Welt zu entschwinden drohte.
„Beruhige dich. Es wird nicht wehtun...“ Seine Stimme schien sich zu entfernen und hallte in ihrem Kopf nach wie ein Echo. Sie konnte gerade noch ausmachen, wie seine Züge unglücklicher wurden, allmählich entgleisten, bis sich der Schmerz deutlich in seinem Gesicht abzeichnete. „Ich verspreche dir, dass ich dich nie vergessen werde. Ich werde nie aufhören, dich zu lieben. Das schwöre ich.“ Seine Stimme brach etwas, und er schluckte. „Und eines Tages werden wir uns wiedersehen. In dieser Welt oder bei Entarna.“ Enya atmete tief durch und bedachte Neró mit einem dankbaren Blick, als er sich vorbeugte und ihr einen letzten Kuss auf die Stirn gab. „Es… es tut mir leid, dass ich nicht gut genug auf dich aufgepasst habe…“ Es folgte eine schmerzerfüllte Pause. Zumindest glaubte Enya dies, ihre Wahrnehmung ließ allmählich nach.
„Schließe deine Augen“, war das Letzte, was sie von seiner sanften Stimme hören sollte. „Entarna ist bei dir.“
Enya tat befreit wie geheißen.
Als sie sie wieder öffnete, war die Blumenwiese verschwunden. Die Luft flimmerte, und die Welt um sie herum schien seltsam unwirklich, beinahe wie ein Traum.

Die Hüterin des Feuers fragte sich mit einem plötzlichen Anflug von Angst, ob sie bereits tot war, als sich ihr eine Hand entgegenstreckte.
Langsam schaute sie hoch und setzte ein verrutschtes Grinsen auf, als sie erkannte, wem die Hand gehörte.
Aura lächelte, obwohl Trauer ihre hellblauen Augen bewölkte. Auf ihrer Schulter saß Enyas geliebter schwarzer Vogel, der sich mit seinem Schnabel das Gefieder putzte. Fidel fuhr sich ein letztes Mal durch die Federn und betrachtete anschließend aufmerksam die Hüterin des Feuers.
„Wo… wo sind die anderen?“, stammelte Enya.
Fidel schüttelte bedauernd den kleinen Kopf: „Ich denke nicht, dass sie noch kommen werden.“
„Und wir sollten hoffen, dass es noch sehr lange dauern wird, bis sie sich zu uns gesellen“, ergänzte Aura.
„Das heißt… ich bin tot?“, fragte die Hüterin des Feuers und spürte, wie sich ihr Herz schmerzvoll zusammenzog.
„Nein. Noch nicht. Aber bald.“ Auras Stimme war sanft, als sie ergänzte: „Du musst nur meine Hand nehmen. Es ist Entarnas Wille, Enya.“
Die Hüterin des Feuers nickte und blickte ihren Gefährten fest in die Augen.
Schließlich ergriff sie die Hand ihrer Freundin, und die Welt und das Leben, wie sie es gekannt hatte, lösten sich in schwarzer Finsternis auf.

Da gibt es die Legende von einem Vogel, der in seinem Leben nur ein einziges Mal singt, doch singt er süßer als jedes andere Geschöpf auf dem Erdengrund. Von dem Augenblick an, da er sein Nest verlässt, sucht er nach einem Dornenbaum und ruht nicht, ehe er ihn nicht gefunden hat.

Und wenn er im Gezweig zu singen beginnt, dann lässt er sich so darauf nieder, dass ihn der größte und schärfste Dorn durchbohrt. Doch während er stirbt, erhebt er sich über die Todesqual, und sein Gesang klingt herrlicher als das Jubeln der Lerche oder das Flöten der Nachtigall. Ein unvergleichliches Lied, bezahlt mit dem eigenen Leben. Aber die ganze Welt hält inne, um zu lauschen, und Gott im Himmel lächelt. Denn das Beste ist nur zu erreichen unter großen Opfern … So jedenfalls heißt es in der Legende.


Colleen McCullough: Die Dornenvögel (Vorwort)

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