Kapitel 33

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

Ein Pfeil raste mit schwindelerregender Geschwindigkeit auf sie zu. Enya wich erschrocken aus und hob schnell ihren Dolch und ihren Bogen auf.
Während sie den Dolch in ihren Gürtel steckte und den Bogen zückte, hörte sie Amariters kreischendes Lachen. Ihre Augen brannten sich in die der Hexe. Amariters Augen glühten zurück. Ein Schauer überlief Enyas Rücken.
Ich darf sie nicht aus den Augen verlieren.
„Ich dachte schon, ich könnte dich genauso umbringen wie deine Freundin“, bemerkte Amariter. „Sie war wahrhaftig erbärmlich.“
Enya begann, im Kreis um ihre Feindin zu laufen. „Sie war nicht erbärmlich. Sie ist ehrenhaft im Kampf gestorben und hat dem Tod furchtlos ins Auge geblickt.“ Während sie sprach, hängte sie sich den Bogen erneut um die Schulter, nahm ihren Dolch und hielt ihn verdeckt hinter dem Rücken.
Plötzlich spürte Enya einen Stich in der Brust. Die Welt um sie herum schien zu verschwimmen und sich zu verzerren. Sie spürte, wie sich ihre Temperatur erhöhte, bis es sich anfühlte, als ob sie innerlich vor Hitze kochte. Eine Vision, stärker als je zuvor, bahnte sich einen Weg durch ihre Gedanken. Mit einer plötzlichen Gewissheit verstand sie, was vor sich ging.
Der Vulkan ist am Ausbrechen!
Die Hüterin des Feuers schnappte nach Luft, als ein Speer ihren Arm streifte. Der Vesuv verschwand für einen Moment vor ihrem inneren Auge und machte einem stechenden Schmerz Platz.

Sie blickte sich hilfesuchend zu Drago und Neró um. Auch sie schienen hinsichtlich ihrer entsetzten Gesichter zu begreifen, dass sich nun in Süditalien die verheerende Naturkatastrophe vollends zu entwickeln drohte. Ihr Vater schloss fassungslos seine Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er sie mit seinen platingrauen Augen fest an. Sie verstand. Ich muss das Training zur Hemmung des Vulkanausbruchs anwenden.
„Was ist?“, riss Amariter sie aus ihren Gedanken.
Enya schüttelte den Kopf, um sich Klarheit in ihrem Kopf zu verschaffen. Sie durfte der Hexe auf keinen Fall ihre Schwäche zeigen. „Nichts!“, rief sie ihrer Feindin bemüht unbekümmert zu und versuchte, dabei ihre Stimme nicht zittern zu lassen, „ich versuche, mir eine Taktik auszudenken.“
Amariter verzog ihre roten Augen zu Schlitzen. Enya sah, wie sie blinzelte- und verschwand.
Die Hüterin des Feuers drehte sich im Kreis. Angst packte sie wie eine spitze Klaue. Nebenbei versuchte sie, sich an Dragos Trainingseinheiten zu erinnern. Sobald der Vulkan ausbricht, hatte er gesagt, musst du dir ein ruhiges Feuer in deinen Gedanken ausmalen. Versuche, es zu zähmen, bis es schwächer und schwächer wird. Wenn du dir sicher bist, dass es sich vollständig beruhigt hat und nicht mehr droht, an Größe und Stärke zu gewinnen und hoch aufzulodern, hast du deine Aufgabe getan. Es schien so einfach zu sein, doch sie wusste, das würde es definitiv nicht. Gleichzeitig erinnerte sie sich an seine Warnungen: Sofern du dich auf deine Aufgabe konzentrierst, werden starke Schmerzen auftreten, da du gegen dein eigenes Element ankämpfen musst.
Wie sollte es ihr bloß gelingen, gegen eine abscheuliche Hexe zu kämpfen und währenddessen einen gewaltigen Vulkanausbruch zu verhindern? Was, bei Entarna, habe ich mir da bloß eingebrockt?
Beruhige dich, befahl sich Enya. Sie schloss die Augen, um sich ruhig knisterndes Feuer vorzustellen, als etwas ihre Haare zerzauste. Sie öffnete die Augen und erblickte eine rauchgraue Nebelwolke, die sich zu ihrer Rechten auf sie zubewegte und einen unnatürlichen Wind verursachte.
Die Wolke begann sich zu drehen und aufzulösen, bis Amariter auf einmal neben ihr stand. Bevor Enya zurücktreten konnte, packte die Zauberin sie an der Schulter.
Angstschweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Die Luft schien zu gefrieren, als Amariter ihr ins Ohr flüsterte: „Du kannst diesen Kampf nicht gewinnen, Kleines. Wir können stattdessen zusammen über Dragosia regieren, du und ich. Was hältst du davon?“
Die Hüterin des Feuers riss sich los. „Lügnerin“, keifte sie. „Ich halte nichts von diesem Angebot.“
„Nun denn.“ Amariters Stimme bekam einen drohenden Unterton. „Ich gebe dir ein Schwert für einen sehenswerten Schwertkampf, sonst nichts. Jetzt habe ich kein Erbarmen mehr.“
Sie warf ihr ein rostiges Schwert vor die Füße. Sobald Enya es aufgehoben hatte, schwang Amariter ihr eigenes durch die Luft. Es schien aus purem Diamant zu bestehen. Plum hat mir bei meiner Ankunft erzählt, nur mit der Klinge eines Diamanten könne man einen Wächter der Gesetze töten… oder einen Drachen. Die Hüterin des Feuers sprang erschrocken zurück. Als die Hexe erneut ausholte, war Enya vorbereitet. Sie schwang ebenfalls ihr Schwert und war auf einmal dankbar für die harten Trainingseinheiten mit Drago, Neró und Jordan.
Die Klingen prallten aneinander und verursachten einen harten, schrillen Ton. Amariter schob die Klingen in die Richtung von Enyas Hals, doch diese entwand sich mit einem Ruck aus dem festen Griff. Blitzschnell wollte sie das Schwert in den Bauch der Hexe schlagen, doch sie lachte nur gehässig und schlug das Schwert mir ihrem eigenen aus Enyas Hand.
Während die Hüterin des Feuers sich vor Amariters hervorschnellendem Schwert duckte und nach ihrer eigenen, auf den Boden gefallenen Waffe suchte, landete etwas Schweres auf ihrem Kopf.
Enya wurde für einen Moment schwarz vor Augen. Als sich ihr Blick wieder aufklarte, realisierte sie, dass Amariter ihr einen Stoß mit ihrem Schild aus Stein verpasst hatte. Sie kam schwankend auf die Füße und taumelte zwei Schritte zurück, während sie ihren Kopf nach Wunden abfühlte. Etwas Feuchtes, Klebriges blieb an ihrer Hand haften. Sie brauchte nicht lange, um zu verstehen, dass es Blut war.
Amariter stürzte erneut auf sie zu und schlug blindlings mit ihrem Schwert in Richtung von Enyas Gesicht. Schnell wich die Hüterin des Feuers zurück, sodass sich das Schwert ihrer Feindin in das lange Gras bohrte.
Amariter versuchte, ihre Waffe aus dem Boden zu ziehen. Währenddessen ergriff Enya ihr Schwert und schlug es ihrer Feindin in die Schulter.
Die Zauberin kreischte auf und fiel auf die Knie. Sie bedeckte ihre verwundete Schulter mit einer Hand, während Blut über ihre Finger floss.
Enya hielt Amariter die verrostete Klinge unter ihre Kehle. „Ergib dich“, fauchte sie. „Heute ist bereits genug Blut vergossen worden.“
Dragos Armee hinter ihr erhob zustimmende Rufe, doch die Hüterin des Feuers drehte sich nicht um und betrachtete die Hexe.
Plötzlich begannen Amariters Augen die Farbe zu wechseln. Das feurige Rot verwandelte sich in eine seltsame Farbe… Es war eine Mischung aus Grau, Blau und Grün.

Enya ließ sofort das Schwert sinken und trat einen Schritt zurück. Die Menge schwieg erwartungsvoll.
Wird sie wieder zu Victoria?, fragte sich Enya.
Doch mit einem Mal besaßen Amariters Augen erneut ihre ursprüngliche, rote Färbung. Amariter lachte hysterisch auf und fixierte Enya. Sie stand auf und trat einen Schritt auf die Hüterin des Feuers zu, bis sie wenige Zentimeter vor ihr stand.
„Ich werde mich niemals ergeben“, fauchte sie und strich sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Dann wurde sie auf einmal von einer rauchschwarzen Nebelwolke umringt, die sich rotierend um ihren Körper bewegte und rasch anwuchs.
Enya trat einige Schritte zurück und betrachtete ängstlich das Geschehen. Auch die riesige Menge, die einen Kreis um die beiden duellierenden Kämpfenden gebildet hatte, stob etwas auseinander. Was würde sich Amariter jetzt einfallen lassen? In ihrem Kopf pochte es schmerzvoll; sie wusste nicht, ob es vom Schlag oder vom Vulkanausbruch in Kampanien herrührte.
Die Nebelwolke begann sich schneller zu drehen, bis sie wie eine kleine Windhose aussah. Dann verharrte sie einige Sekunden lang in der Luft und löste sich auf. Die Hüterin des Feuers hielt erschrocken die Luft an. Als der Rauch komplett verschwunden war, gefror Enya das Blut in den Adern und ihre Beine drohten nachzugeben.

Die Zauberin hatte sich in eine abscheuliche Kreatur verwandelt, die eine geringe Ähnlichkeit mit einem Drachen aufwies. Ihr um das Zehnfache gewachsener Körper war von blutroten, schimmernden Schuppen bedeckt. Die schwarzen Flügel spannten sich bedrohlich auf. Sie waren von feinen roten Adern überzogen, die leicht pulsierten. Die schwarzen Krallen an den riesigen Klauen waren ungefähr einen halben Meter lang, so schien es Enya, und der Schwanz war mit drei Giftstacheln ausgerüstet und peitschte regelmäßig auf den Boden. Doch das Schrecklichste war ihr Gesicht, das sich abgesehen von der Größe überhaupt nicht verändert hatte; Es war ein menschliches Gesicht mit bleicher, weißer Haut und roten Augen, die langsam blinzelten. Der Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Die gespaltene Zunge schnellte hervor und verschwand hinter den blutroten Lippen, wobei Enya einen Blick auf die gefährlichen Reißzähne erhaschte.
Durch die Schuppen an ihrer Schulter drang zwar noch immer etwas Blut, doch der Einstich schien nicht allzu tief gewesen zu sein.
Die Hüterin des Feuers schaute zu Neró, der wie erstarrt zu der grässlichen Kreatur hinüberschielte und Enya einen besorgten Blick zuwarf. Dann schloss er konzentriert die Augen, und auch die Hüterin des Feuers spürte auf einmal erneut den Vulkanausbruch, dessen Erdbeben in ihrer Brust widerhallten, als ob sie genau in dem Moment am Unglücksort in Süditalien stehen würde.

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