Kapitel 31

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

Der wahre Held ist der, der trotz seiner Furcht in die Schlacht zieht. Das nennt man Mut. Ohne Furcht gibt es keinen Mut. Wir alle sind die Schmiede unseres Mutes. Wir schmelzen ihn wie ein edles Metall aus unserer nackten Furcht. Wir verwandeln unsere Furcht und dadurch verwandeln wir uns selbst. Und so wird es uns gelingen, ein Königreich zu retten.

Kathryn Lasky. Die Legende der Wächter. Die Entscheidung.

Drago führte das Dragasische Heer zur Drachenstatue. Seine Schuppen erglühten silbern im Mondlicht und seine platingrauen Augen schimmerten wachsam und entschlossen.
Enya, die ihrem Vater dicht auf den Fersen folgte, wischte sich die schweißnassen Hände an ihrer Tarnhose ab. Links neben ihr lief Jordan, auf der rechten Seite Neró und Plum, der sich zahlreiche Messer in das lange Fell geknotet hatte. Die Hüterin des Feuers fragte sich, wie der Fellball damit kämpfen wollte, doch er bestand darauf, seine spezielle Technik anzuwenden.
Hinter ihnen befanden sich unzählige Tiere und Fabelwesen, die im Takt zu ihren Schritten Flaggen mit dem Wahrzeichen Dragosias gen Himmel erhoben und ein kurzes, einprägsames Schlachtlied anhoben:

„Im Schein des Vollmonds schreiten wir
Und nehmen Amariter ins Visier
Wir fordern zurück, was uns gehört
Und bekämpfen das Unheil, das sie heraufbeschwört!“

Enya blickte über ihre Schulter zu den Kriegern Dragosias. Zum einen waren es Waldtiere wie Rehe, Wildschweine, Mäuse, Ratten, Kaninchen, Hasen, Eichhörnchen, Vögel, Füchse, Igel, Otter, Waschbären, Stinktiere und Dachse. Ihre Waffen hingen an Ledergürteln und blitzten im Mondlicht.
Dahinter traten Raubkatzen zum Vorschein. Säbelzahntiger, Löwen, Tiger, Geparden und Leoparden schritten Seite an Seite voran. Sie waren unbewaffnet. Sie kämpften mit Krallen und Zähnen. Die Hüterin des Feuers fragte sich, woher sie so schnell gekommen waren, zumal die Großkatzen in unterschiedlichen Lebensräumen lebten.
Darüber hinaus gab es Elefanten und Mammute. Adler und allerlei andere Greifvögel kreisten über ihren Köpfen.
Sämtliche Affen, darunter Schimpansen und Gorillas, hangelten sich entlang der Bäume an den beiden Seiten des Dragasischen Heeres voran.
Am meisten zogen Enya jedoch die Fabelwesen in den Bann. Dazu gehörten Einhörner, Greifen, Zentauren, Satyrn, Pegasus und Phönixe.
Drago wandte seiner Tochter sein Gesicht zu. „Die Drachenstatue befindet sich auf der Blumenwiese“, erläuterte er. „Ein Spatz hat mir die Nachricht überbracht.“
Die Hüterin des Feuers nickte, starrte auf den Boden und lauschte dem Schlachtgesang, während sie liefen.
Schließlich erreichten sie ihr Ziel, und die gegnerischen Heere standen sich in der idyllischen Landschaft gegenüber.
Die Blumenwiese war genauso friedlich, wie sie sie damals zurückgelassen hatten. Das hüfthohe Gras bewegte sich in der frischen, leichten Brise. Die Blumen leuchteten in der Dunkelheit.
Enya stockte jedoch, als sie ihre Gegner erblickte. Angsterfüllt lauschte sie dem lauten Pochen ihres Herzschlags.
Amariter stand erhobenen Hauptes vor der Drachenstatue. Ihre schwarzen Haare umwehten unheilvoll ihr schneeweißes Gesicht und die goldene Rüstung. Ihre rotschwarzen Augen bohrten sich in Dragos. Sie besaß einen Schild aus purem Stein mit eingemeißelten Schlachtszenen und ein Schwert mit einer Diamantklinge. Die Skulptur im Hintergrund wirkte bedrohlich. Das graue Gestein war bröckelig und an einigen Stellen mit Moosen und Farnen bewachsen, als ob die Bewohner Dragosias das Gebilde seit langer Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen hätten.
Im Hintergrund ließen sich im Mondlicht schleierhaft Zyklopen, Riesen, Kobolde, Gnome und Werwölfe erkennen. Zudem gab es seltsame, etwa zwei Meter hohe Spinnen, die mit giftigen Stacheln ausgerüstet waren.
Das grässlichste aber waren die Mischwesen: Es waren seltsame Geschöpfe, die zu keiner bestimmten Spezies zu gehören schienen und den Großteil des Heeres von Amariter ausmachten. Enya fand, sie sahen aus wie aus grauer Knete geschaffene und unvollendete Kunstwerke; sie besaßen feurige Augen und darunter ein schwarzes Loch mit spitzen Zähnen. Dazwischen befand sich ein Knubbel, der womöglich die Nase darstellen sollte. Die Haut spannte sich über den mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhandenen Schädel und besaß eine blassgraue Färbung. Die unbehaarten Kreaturen waren lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet und hatten lange, rostige Messer in ihren Klauen.
Die Hüterin des Feuers schluckte und schickte ein stilles Gebet an Entarna. Bitte hilf mir, diesen schrecklichen Krieg zu verhindern.
Amariters Heer überragte Dragos Truppe um mindestens das Doppelte seiner Armeestärke. Dieser Kampf ist aussichtslos. Wie sollten sie diesen Krieg bloß gewinnen? Und wenn ja, mit wie vielen Verlusten?
An ihrer rechten Schulter spürte sie plötzlich einen beruhigenden Händedruck.
Nerós Augen leuchteten entschlossen. „Hab keine Angst“, sagte er beruhigend.
Enya nickte dankbar. Sie fragte sich, wie er nur so ruhig bleiben konnte.
Auf einmal ergoss sich Amariters Stimme über die Wiese, und eine gespenstische Ruhe breitete sich aus. „Willkommen zum Zweiten Dragasischen Krieg!“
Enya starrte den Hüter des Wassers verwundert an. Warum war von dem zweiten Dragasischen Krieg die Rede? Drago hatte bisher in diesem Zusammenhang nie etwas erwähnt. Neró zuckte die Schultern und betrachtete Amariter, die erneut zu sprechen begann: „Es freut mich, dass wir uns heute auf diesen wundervollen Blumenwiesen eingefunden haben, um diesen Kampf zu führen. Ich bin mir sicher, dass wir siegen werden.“
Dragos Armee erhob lauthals Protestgeschrei, doch die Hexe brachte sie mit einem hämischen Grinsen und einer abwehrenden Handgeste zum Schweigen. „Des Weiteren hoffe ich, dass ihr eine angenehme Anreise hattet, denn meine Untertanen wollen gegen kräftige, starke Feinde kämpfen. Ich wünsche euch viel Unglück.“ Sie ließ eine Kunstpause, wobei ihre gespaltene Zunge langsam über ihre dunkelroten Lippen fuhr. „Sollte jemand Einspruch erheben wollen, so sollte er es jetzt tun. Ich werde mir über jegliche Friedensangebote jedoch keine Gedanken machen oder ihnen gar zustimmen.“
Bevor sie weitersprechen konnte, rief Drago mit lauter Stimme: „Ich erhebe Einspruch, Amariter. Dieser Krieg muss keine unnötigen Leben fordern. Sofern du zustimmst, werde ich allein gegen dich kämpfen. Ich verspreche, dass du viel Blut zu Gesicht bekommen wirst, aber nicht das meiner Untertanen. Ich fordere dich hiermit zu einem Duell heraus. Ein Zweikampf zwischen uns beiden. Nichts weiter. Der Gewinner erhält die uneingeschränkte Herrschaft Dragosias.“ Eine Weile herrschte Ruhe. Dann knurrte Drago: „Was sagst du dazu?“
„Ich sage nichts dazu. Ich lehne dein Angebot ab. Wo bleibt denn der Spaß, wenn es nur eine einzige Leiche gibt?“
Daraufhin hob Amariter einen soeben hervorgezauberten Speer in die Luft und stieß einen lauten, spitzen Schlachtruf aus. Daraufhin machten sich ihre Untertanen bereit und erfüllten die bisher angehaltene Stille mit einem ohrenbetäubendem Gebrüll, der von ihren auf den Boden donnernden Waffen unterstützt wurde. Ein Phantompferd aus schwarzem Rauch mit beängstigend roten Augen galoppierte aus der Menge. Amariter schwang sich auf seinen Rücken und führte ihre Armee in den Kampf, wobei sie hysterisch lachte.
Drago klappte desweilen seine riesigen Flügel drohend auseinander. Das Gras zu seinen Seiten bewegte sich in dem entstandenen Luftzug. Seine Schuppen stellten sich auf und bildeten eine aufgrund der scharfen Kanten gefährliche, zugleich aber auch schützende Schicht.
Er schritt voran und erhob einen qualvollen, wenn auch entschlossenen Ruf: „Für Dragosia und im Namen Entarnas!“
Seine Untertanen erhoben die Waffen und stimmten ein.
Der Krieg hatte begonnen.

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