Und schließlich war es soweit. Der Tag des Kampfes begann.
Enya wurde pünktlich um Viertel nach vier morgens von Plum geweckt und würgte mit ihrer Familie und ihren Freunden ihr Frühstück hinunter. Obwohl es dank Plums Kochkünsten fantastisch schmeckte, grummelte ihr Magen protestierend. Unwillkürlich musste sie an den Begriff Henkersmahlzeit denken.
Danach deckte sie mit Plum den Tisch ab. Der Fellball schaute sie wortlos an, doch schließlich durchbrach er die Stille: „Du brauchst keine Angst zu haben. Entarna wird dich nicht im Stich lassen, da bin ich mir absolut sicher. Sie wird dir beistehen.“
Die Hüterin des Feuers brachte ein schwaches Lächeln zustande. Als sie ihm mit der Hand leicht über das Fell fuhr, widersprach er nicht. Da wusste Enya, dass er sich ebenfalls Sorgen machte.
Auch ihre Familie und ihre Freunde sprachen ihr in den folgenden Stunden Mut zu. Doch ihr Herz pochte ununterbrochen schneller und schneller, je später es wurde.
Wie soll ich den Tag bloß überstehen?, fragte sie sich. Zudem war sie sich sicher, dass sie ihn genauer gesagt gar nicht überleben würde.
Am Nachmittag lief sie für eine halbe Stunde mit ihrer Cousine im Dragasischen Wald.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Viola mitfühlend. „Du hast gehört, was Drago gesagt hat.“
Die Hüterin des Feuers nickte unsicher. Sie war sich ihrer Entscheidung noch immer bewusst.
Um sich abzulenken, fragte sie rasch: „Wie kommst du eigentlich ohne deine Schminke und dein Smartphone zurecht?“
Ihre Cousine lachte. „Obwohl er strikt gegen elektronische Geräte ist, war es nett von Drago, dass ich immerhin meinen MP3-Player behalten durfte. Und ohne Handy… Naja, die Welt geht weiter.“ Sie schnitt eine Grimasse und fügte hinzu: „Das mit der Schminke ist allerdings überflüssig. Er hätte sie mir ruhig gönnen können.“
Enya zuckte die Schultern. „Er will, dass Dragosia so natürlich wie möglich bleibt.“
Viola brabbelte etwas Unmissverständliches. Die Hüterin des Feuers hörte „von wegen unnatürlich“ und „total schick“ heraus und verdrehte die Augen.
„Ohne Schminke siehst du viel besser aus“, versuchte sie sie zu beruhigen.
„Wie ist Drago als Vater?“, wechselte Viola rasch das Thema.
„Eigentlich in Ordnung. Er versucht sich Mühe zu geben, besonders nett zu sein... Aber irgendwie ist er nicht wie äh… Onkel Guido.“ Es war seltsam, ihn nun so zu nennen.
„Du gewöhnst dich schon noch“, erwiderte ihre Cousine, „und für mich bleibst du trotzdem noch meine kleine Schwester.“
Enya unterdrückte die Tränen, die aufzusteigen drohten.
Sie drehten allmählich um und liefen zur Lichtung zurück, wo die Hüterin des Feuers von Neró empfangen wurde.
Viola zwinkerte ihr zu und ging in ihr Baumhaus, um zu duschen.
Der Hüter des Wassers setzte sich mit Enya unter den Schatten eines Baumes.
Er blickte sie unverwandt an, als er nachdenklich sagte: „Denke dran… Falls Amariter angreift, ehe wir fliehen, bleibe immer in meiner Nähe.“
Neró hatte in den letzten Wochen seine Geschicklichkeit im Schwertkampf bewiesen. Drago meinte, er sei gefährlicher als jeder andere, den er kannte.
„Und obwohl du sehr gut Bogen schießt, konzentriere dich auf-“
„Den Nahkampf mit dem Dolch von Sapiencia“, unterbrach ihn Enya. „Das weiß ich, weil wir es etliche Male durchgegangen sind.“
Neró nickte, sein Blick schweifte ab.
„Es ist feige“, murmelte die Hüterin des Feuers, „dass wir vor dem Krieg fliehen, während die Bewohner Dragosias ihr Leben lassen.“
Der schwarzhaarige Junge schüttelte den Kopf. „Es wäre feige, den Vulkanausbruch nicht zu hemmen.“
Dann breitete sich eine unangenehme Stille aus.
„Mach dir keine Sorgen“, versuchte Enya ihm und auch sich selbst Mut zuzusprechen.
„Ich habe ein schlechtes Gefühl wegen der Prophezeiung“, gestand er. „Ich könnte es nicht ertragen.“
Die Hüterin des Feuers lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie tat ihr Möglichstes, um nur auf das Gezwitscher der Vögel und das Surren der Grillen zu achten.
Auf einmal drängte sich ein Bild des ausbrechenden Vesuvs in ihre Gedanken. Es war stärker als je zuvor. Enya krampfte sich zusammen und stand auf. Sie spürte deutlicher als in den letzten Tagen die sengende Hitze und taumelte zurück, als in der Vision schwarze, orange glühende Gesteinsbrocken auf sie zurasten. Sie riss die Augen auf und kehrte in die Wirklichkeit zurück.
„Was ist?“, fragte Neró und erhob sich ebenfalls. Seine blauen Augen glühten besorgt. „Ist es der Vulkan?“
Enya nickte. Ihr wurde schwindelig, doch der Hüter des Wassers hielt sie fest.
„Wir gehen zu Drago“, entschied er.
Als sie vor seiner Höhle standen, kam der Drache bereits heraus.
„Ich spüre es auch“, sagte er düster. „Ich schätze, der Ausbruch wird während des Kampfes stattfinden.“
Wie viel Pech kann man eigentlich haben?
Enya fragte sich, ob es wohl ihre Entscheidung in Frage stellte.
Nein. Es muss kommen, wie es kommen muss. Ich habe mich entschieden.