Kapitel 29

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

Jeden Tag trainierten Enya und Jordan für den bevorstehenden Kampf und die Hemmung des Vulkanausbruchs. Drago wollte Amariter zwar zu einem Zweikampf auffordern, doch sie sollten dennoch vorbereitet sein.
Zudem wurden die Elementhüter kurzzeitig in der Geschichte, Kultur und Sprache Dragosias unterrichtet. Da ihnen nicht mehr genug Zeit blieb, um alles zu erfahren, versprach Drago, den Unterricht nach dem bevorstehenden Kampf fortzuführen.
Enya erinnerte sich gerne an ihre erste Unterrichtsstunde in Dragos Höhle zurück: Drago hatte ein dickes, aufgeschlagenes Buch auf einen Steintisch gelegt. Enya und Jordan hatten sich neugierig über die vergilbten Seiten des Buches gebeugt, während Staub aus dem Buch aufstob und in der Luft flimmerte, die angenehm nach altem Papier roch. Auf der aufgeschlagenen Seite war eine detaillierte Karte Dragosias zu sehen, die den Anschein machte, als ob sie vor sehr langer Zeit angefertigt worden war. Enya hatte begriffsstutzig die feinen schwarzen Striche betrachtet und hatte sie leise murmelnd mit dem Finger nachgezogen, während Jordan schon längst die Details und Anhaltspunkte begriffen hatte.
Neben dem Unterricht mussten sie sich jedoch auch schweren körperlichen Arbeiten unterziehen. Jeden Morgen schmerzten Enyas Muskeln beim Aufstehen.

Auch die Einwohner Dragosias bereiteten sich auf den Krieg vor. Es wurden unzählige Schwerter geschmiedet, Flaggen mit dem Wahrzeichen Dragosias genäht und Speere geschnitzt. Viele Tiere und andere Geschöpfe erklärten sich bereit, mitzukämpfen.
Noemi begann währenddessen, sich einzuleben. Ihre beiden Küken, Nebula und Ora, erlernten das Fliegen. Enya freundete sich mit Plums Kindern an. Plum wiederum zeigte ihnen, wie man Yuxak-Tortschel zubereitet, und schon bald wurde er beinahe von ihnen übertroffen.

Der Mond wurde Nacht für Nacht größer. Die Wochen verrannen wie Regenwasser im Boden.
Eines Tages aß Enya mit ihrer Tante, ihrem Onkel und Viola zu Mittag, als Sapiencia zu Besuch kam. Sie schenkte der Hüterin des Feuers einen Dolch und verkündete, dass es in drei Tagen Vollmond geben würde.
Enya wälzte sich die folgenden beiden Nächte schlaflos in ihrem Bett herum und dachte über ihre Entscheidung nach. Im Hintergrund ertönte Violas Schnarchen, die nun in Auras Bett schlief.
Am letzten Tag gab Drago ihr eine Überraschung zum Frühstück bekannt. Er befahl ihr, sich zum Menschentor zu begeben. Weitere Details wollte er nicht nennen.
Enya steckte ihren Bogen ein, da sie sich nicht mehr ohne ihn nach draußen begab, und machte sich auf den Weg.
Als sie schließlich die Person am Tor sah, traute sie ihren Augen nicht.
Es war Neró. Sie begann, schneller zu laufen und wurde sogleich von ihm umarmt.
„Du hast Drago überzeugt“, berichtete er. „Ich werde nie mehr dieses Verlangen nach Bananen vergessen. Unglaublich!“
Enya lachte. „Das glaube ich dir.“
Während sie zurückliefen, erzählte die Hüterin des Feuers alles, was bisher geschehen war. Sie erläuterte, dass Drago ihr Vater und Amariter ihre Mutter war, und berichtete vom Vulkanausbruch. Und sie erzählte von Fidels und Auras Tod.
Neró war sichtlich schockiert über die Ereignisse.
„Ich wünschte, ich wäre hier gewesen“, sagte er bedauernd. „Ich hätte dich wenigstens etwas aufmuntern können.“
Enya schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht, dass du das geschafft hättest.“
Eine Weile lang sagte niemand ein Wort. Dann fragte Neró lächelnd: „Was ist eigentlich deine Lieblingsfarbe?“
Enya starrte ihn verwirrt an. „Wie kommst du denn jetzt auf dieses Thema?“
Neró schüttelte theatralisch seufzend den Kopf. „Meine Güte! Ich will dich auf andere Gedanken bringen. Reine Psychologie.“ Er hob fragend eine Augenbraue: „Außerdem will ich es wirklich wissen. Also, was ist deine Lieblingsfarbe?“
Enya verdrehte die Augen, antwortete jedoch mit einem kurzen Blick auf den Wald kurzbündig: „Grün.“
Der Hüter des Wassers nickte. „Weil es die Farbe der Pflanzen ist?“, fragte er.
Enya nickte widerwillig. Dann fragte sie: „Und was ist deine?“
„Blau.“
Plötzlich musste Neró lächeln.
„Was ist?“, erkundigte sich Enya irritiert.

„Ich musste nur an deine Lieblingsfarbe denken“, erklärte er. „Bei der Zeremonie war dein Kleid auch grün. Damals habe ich mich gefragt, was schöner sei, deine Augen oder das Kleid. Es sind eindeutig deine Augen.“
Enya spürte, wie ihr Gesicht glühte. Sie verdrehte die Augen, doch insgeheim spürte sie, wie ihr Herz einen freudigen Sprung machte.
Sie liefen schweigend weiter. Dann durchbrach Enya die Stille. Ihre Stimme bebte, als sie fragte: „Hast du eigentlich Angst vor dem Kampf?“ Ihr Magen schien sich bei dem Gedanken an den bevorstehenden Krieg umzudrehen. „Ich habe Angst. Ich weiß, dass ich eigentlich keine haben sollte, aber sie begleitet mich Tag und Nacht. Sie ist wie eine Schlange, die mir fest die Kehle zuschnürt.“
Neró starrte sie an. „Du hast Angst, dass sich die Prophezeiung erfüllt, oder?“
„Ja.“
„Ich auch.“ Er legte sachte eine Hand auf ihre Schulter. „Mehr als alles andere.“ Nerò blickte ihr fest in die Augen.
Schließlich kamen die Baumhäuser in Sicht, und sie betraten schweigend die Lichtung.

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