Kapitel 28

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

Die Welt bestand aus einem schäumenden Wasserstrudel.
Bin ich etwa im Wasserfall gelandet? Luftblasen stiegen auf. Sie wurde hin und her geschleudert und hatte jegliche Orientierung verloren.
Bleibe ruhig, flüsterte Sapiencias Stimme an ihrem Ohr, es wird ziemlich ungemütlich werden. Aber ich bin mir sicher, du wirst es überstehen.
Auf einmal lichtete sich ihr Blickfeld. Das Wasser verschwand wie bei einer Leinwand im Kino, und sie hatte wieder festen Boden unter ihren Füßen. Sonnenschein wärmte ihre Haare und ihr Gesicht.
Sie war in der Menschenwelt.
Enya hörte Kinderlachen und das Aufschlagen eines Basketballs in ihrer Nähe. Sie befand sich auf dem Schulhof ihrer ehemaligen Schule.
„Was sollen wir spielen?“, sagte jemand neben ihr. Sie wandte ihr Gesicht der Stimme zu und blickte einem Mädchen ins Gesicht. Es war so alt wie sie selbst, vielleicht acht oder neun Jahre alt zu diesem Zeitpunkt, und hatte dunkelrote, lockige Haare und Sommersprossen.
Mit einer plötzlichen erschreckenden Erkenntnis erfasste sie, was bei dieser Erinnerung geschehen würde.

„Hast du eine Idee?“, fragte das Mädchen, von dem sie nun mit Sicherheit wusste, dass es Lena hieß.
„Äh…“ Sie schluckte wie damals, als ihr die Frage gestellt worden war.
„Und?“ Lena stemmte die Hände in die Hüften. „Wenn nicht, müssen wir dasselbe spielen wie gestern. Und ich glaube nicht, dass es dir sonderlich gut gefallen hat.“
Plötzlich kamen noch drei andere Mädchen hinzu. Enya kannte ihre Namen, und auch ihren typischen Charakterzug: Sie taten das, was Lena sagte. Immer.
Enya schwieg.
„Na gut.“ Lena grinste. „Dreh dich im Kreis.“
Enya umklammerte ihre Brotbüchse fester, rührte sich jedoch nicht.
„Bist du taub? Mach schon!“, stimmte eine der anderen ein. Die Hüterin des Feuers wusste, dass sie insgeheim Mitleid mit ihr hatten, aber zu feige waren, um zu protestieren. Seufzend tat sie, was von ihr verlangt wurde.
„Und jetzt machst du die Augen zu.“
Enya tat wie geheißen.
„Jetzt zähle leise bis zehn“, verkündete Lena argwöhnisch grinsend.
Eins. Zwei. Drei. Leises Kichern war zu hören, und sie spürte, wie sie rot wurde. Sie zählte weiter. Neun. Zehn.
Sie blieb stehen und öffnete die Augen.
Sie war allein. Die anderen Mädchen waren weggerannt. Nun würde sie den Rest der Pause allein verbringen. Das kannte sie schon vom vorigen Tag.

Jedes Mal, wenn sie nun Lena und ihre Kompanie rein zufällig bei einer ihrer einsamen Runden auf dem Schulhof treffen sollte, würden sie bei Enyas Anblick losprusten und vor ihr fortlaufen, bevor sie überhaupt die Chance hätte, sie anzusprechen.
Sie schaute stumm auf ihre Hände, die einige Augenblicke zuvor die Brotbüchse gehalten hatten. Dann fasste sie an ihren Kopf, wo wenige Zeit zuvor ihre Lieblingsmütze gesessen hatte.
Gestern hatten ihre Freundinnen ihren neuen Schlüsselanhänger mitgenommen, heute mussten die Brotbüchse und ihre Lieblingsmütze daran glauben.
Enya fragte sich, wie lange dieses „Spiel“ wohl andauern würde, und setzte sich in Bewegung. Unwillkürlich schossen ihr Tränen in die Augen. Sie beobachtete die anderen Kinder, die fröhlich miteinander spielten. Während sie so daherlief, zerrten heftige Gefühle in ihr. Zuerst fühlte sie sich nur unheimlich einsam unter den vielen anderen Kindern. Doch dann mischten sich andere Emotionen darunter, entschlossenere. Die Tränen blieben, aber sie brannten wie Feuer.
Auf einmal riss sie wieder der starke Wasserstrom aus ihrer Erinnerung. Bei der Wucht des Wassers wurde sie nach hinten geschleudert, und die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst. Beim Versuch, einzuatmen, schluckte sie versehentlich Wasser. Würgend begann sie zu husten, was die Sache nur noch schlimmer machte.
Genauso plötzlich, wie es gekommen war, verschwand das Wasser jedoch wieder, und sie schnappte keuchend und schnaufend nach Luft.

Sie blinzelte und fand sich in ihrer ehemaligen Schulmensa wieder.
Sie saß mit Lena und ihren Freundinnen an einem runden Tisch. Das rothaarige Mädchen beugte sich über den Nachtisch.
„Igitt“, sagte sie, „da ist ein Stück Plastik drin! Und was ist das für ein grüner Fleck? Wie kann man uns bloß so etwas vorsetzen?“
Die anderen Mädchen besahen sich den Nachtisch ebenfalls genauer und verzogen das Gesicht. Nur Enya blieb reglos sitzen.
„Was ist denn?“, wollte Lena von ihr wissen.
„Nichts“, log die Hüterin des Feuers. In Wahrheit aber trauerte sie um ihre Federtasche, die ihr am vorigen Tag von der Clique weggenommen worden war.
„Ich schätze, es macht euch nichts aus, wenn ich den Nachtisch wegbringe“, bot Lena an. Sie lächelte ihr schemenhaftes Grinsen, und ihre Sommersprossen schienen auf und ab zu springen.
Enya hörte ihre Freundin aufstehen, als ein schmatzendes Geräusch ertönte. Enyas Haare wurden feucht. Sie fasste sich an den Kopf und stöhnte auf.
Das rothaarige Mädchen hatte ihr den verdorbenen Nachtisch auf den Kopf gekippt.
Lena lachte auf. „Oh, das tut mir leid!“ Sie verdrehte theatralisch die Augen. „Das ist mir aus Versehen passiert!“
Kurz darauf erschien eine Erzieherin und packte das Mädchen hart an den Schultern. „Das reicht!“, kreischte sie mit schriller Stimme, „du kommst jetzt sofort mit mir zum Direktor!“
Das Bild verschwamm vor Enyas Augen. Sie spürte gerade noch, wie das Wasser ihr den Nachtisch aus den Haaren wusch. Dann wechselte das Bild.
Die Hüterin des Feuers befand sich nun wieder auf dem Schulhof. Es war bereits ein Jahr vergangen, und sie war etwa zehn Jahre alt.

Langsam schritt sie auf Lena und ihr Gefolge zu. „Ich muss euch etwas sagen.“ Ihre Stimme klang in ihren Ohren zittrig und piepsig.
„Und das wäre?“ Das sommersprossige Mädchen hob die Augenbrauen. „Sag bloß, du hast dich verliebt!“ Die Clique begann zu lachen.
„Ich will nicht mehr bei euch mitmachen“, meinte Enya unbeirrt und ignorierte die Angst, die ihr Herz zuzuschnüren drohte.
Die anderen Mädchen legten sprachlos die Stirn in Falten, das Lachen blieb ihnen im Halse stecken. In ihren Augen konnte Enya Überraschung erkennen, vermischt mit unterdrückter Zuneigung, und sie meinte auch die Andeutung unverhohlenen Neids zu sehen.
In Lenas Augen dagegen wütete ein Sturm der Wut.
„In Ordnung.“ Sie verschränkte die Arme. „Unter einigen Bedingungen. Du darfst nie wieder bei uns mitmachen. Wenn du Hilfe brauchst, werden wir dir nicht helfen. Wenn du allein bist, macht uns das nichts aus. Und du drehst dich jetzt um und gehst weg, ohne dich umzublicken. Tust du es doch, so werden wir dich nie wieder in Ruhe lassen und dir dein Leben zur Hölle machen, das verspreche ich.“
Was sind das denn für komische Bedingungen? Enya blickte wortlos in ihre kalten Augen und drehte sich um. Sie wollte gerade den ersten Schritt machen, als sie einen heftigen Stoß von hinten bekam. Sie fiel auf den harten Boden und schrammte sich die Handflächen auf.
Benommen stand sie auf. Ihr Kopf drehte sich. Hinter ihr kicherten ihre ehemaligen Freundinnen.
Nicht umdrehen, ermahnte sie sich.
Sie lief weiter und ignorierte den pochenden Schmerz hinter ihren Schläfen. Sie wischte sich die Hände an ihrer Hose ab und musste feststellen, dass sie eine leicht blutige Spur hinterließen. Schließlich verklang das Lachen der Mädchenclique hinter ihrem Rücken.
Der Wasserstrudel empfing sie wie ein einladender Mantel. Das kalte Wasser kühlte ihren schmerzenden Kopf und ihre geschundenen Hände. Es wusch sanft die Tränen von ihren Augenwinkeln, die ihr nochmals abrupt in die Augen geschossen waren.
Sapiencias warme Stimme ergoss sich wie Honig in ihre Ohren.
Du weißt, wie grausam die Menschen sein können. Aber das ist nicht alles.
Das Wasser verfärbte sich blutrot und verrann, doch nun kamen keine Erinnerungen. Es waren Ausschnitte von Szenen aus der gesamten Welt.
Zuerst sah Enya hungernde Menschen in Afrika. Eine Mutter am Straßenrand hielt ihr ausgemergeltes Kind in ihren Armen. Die Sonne im Hintergrund war am Untergehen und verwandelte den Himmel in ein leuchtendes Orange. „Du musst durchhalten.“ Obwohl sie eine andere Sprache sprach, verstand Enya die geflüsterten Worte aus unerfindlichen Gründen, als wäre es ihre eigene.
„Bitte. Tu es für deine Mama.“ Die Stimme der Mutter klang ruhig und einlullend, aber unendlich traurig. Die Afrikanerin legte ein Ohr an die Brust des Kindes und schmiegte sich tröstend an den kleinen Körper. Enya konnte den Herzschlag mithören. Zwei kräftige Schläge ertönten kraftvoll im Brustkorb des Kindes. Gespannt horchend wartete sie auf den nächsten. Doch er blieb aus, und die Augen der Mutter füllten sich mit Tränen.

Das Bild wandelte sich, und Enya vernahm das zischende Wispern ihrer Großmutter im Kopf. Ihre Stimme klang aufdringlich, als sie flüsterte: Und nun sieh, was passiert wäre, wenn das Kind überlebt hätte.
Die Hüterin des Feuers fand sich erneut in einem Land in Afrika wieder.
Die Mutter wirkte um Jahre älter, ihr Gesicht wies zahlreiche Sorgenfalten auf. Sie legte ihre Stirn in neue Falten, als sie mit ihrem nun ungefähr siebenjährigen Sohn sprach und ihn an den Schultern packte. Und ein weiteres Mal verstand Enya sie, obwohl sie in einer anderen Sprache kommunizierte.
Die Mutter schüttelte andauernd den Kopf, Tränen schimmerten in ihren Augen.
„Ich muss dich wegschicken“, murmelte sie und drückte ihr Kind an sich. „Du bist dort besser aufgehoben, glaube mir. Du bekommst genug zu essen und zu trinken. Du erhältst das, was ich dir nicht geben kann.“
Der Sohn starrte sie an. Seine Unterlippe zitterte, als er erwiderte: „Aber die Menschen, zu denen du mich schicken willst… Sie ermorden andere Menschen! Das will ich nicht.“
Die Mutter nahm seine Hand in die ihre. „Ich weiß. Aber bleibst du bei mir, so stirbst du an Hunger. Willst du das?“
Der Sohn schüttelte den Kopf. Er schmiegte sich ein letztes Mal an sie, dann entfernte er sich und schloss sich einer Gruppe uniformierter Männer an, die ihm ein Gewehr in die Hand drückten.
Und plötzlich verstand die Hüterin des Feuers. Dieser Junge wurde ein Kindersoldat. Er würde Menschen erschießen, Kinder und Frauen, als Tausch gegen sein Leben. Selbst, wenn er eines Tages zurückgelassen werden würde, würde er sich einer anderen militärischen Gruppe anschließen, um wieder an Nahrung zu gelangen. Es war ein grässlicher Teufelskreis, mit dem Ziel zu leben, indem man sich Leben nimmt.

Sobald sie sich die Flüssigkeit der nächsten Wasserfront aus den Augen geblinzelt hatte, beobachtete Enya zwei Elefanten, die friedlich nebeneinander in der Steppe standen.
Auf einmal lösten sich Schüsse aus einem Busch. Ob es Trophäenjäger oder Wilderer waren, die mit Gewehren auf die Tiere schossen, konnte Enya nicht erkennen. Erde stob in staubigen Wolken auf, das Getrampel der mächtigen Tiere war deutlich zu vernehmen. Als sich der Staub legte, konnte Enya erkennen, dass der linke Elefant schwer verwundet worden war. Der andere erhob ein ohrenbetäubendes Gebrüll und rannte in die Richtung des Busches, aus dem geschossen worden war, worauf die Menschen dahinter angsterfüllt flohen.
Enya betrachtete das verletzte Tier. Der zuvor aufbrausende Elefant trottete zu ihm zurück und streichelte mit seinem Rüssel den verendenden Artgenossen. Langsam trübten sich die weisen Augen des Tieres, bis sie sich mit einem letzten Atemzug schlossen. Die Augen des überlebenden Elefanten wiederum sahen niedergeschlagen ins Leere; er streichelte noch immer den Kadaver, während andere Elefanten dazukamen. Erneut wurde die Luft von lautem Gebrüll erfüllt, diesmal noch durchdringender.
Abermals wechselte die Situation.
Enya befand sich in einem Hubschrauber. Das permanente Dröhnen schmerzte in ihren Ohren, ihre Haare wurden wild umhergewirbelt. Mit einer raschen Handbewegung fegte sie sich die Haare aus dem Gesicht, um etwas sehen zu können.
Der Helikopter kreiste über den Regenwäldern am Amazonas, der sich wie eine glitzernde Schlange durch die Bäume zog.
Rauchschwaden stiegen in den Himmel auf. Der Wald brannte. Sie schaute nach unten und beobachtete, wie die einheimischen Tiere aus ihrem brennenden Zuhause flohen, auf vom Menschen erzeugte, kahle Felder.
Zunehmend mischten sich einheimische Einwohner zwischen die Tiere. Sie hatten Kriegsbemalungen und weit aufgerissene erschrockene Augen, und Enya verstand sofort, dass sie nicht wussten, was vor sich ging. Sie hatten lediglich die Gewissheit, dass ihre Heimat, ihr Zuhause, ihr Zufluchtsort zerstört wurden. Die angsterfüllten Frauen trugen ihre Kinder auf dem Rücken, während die Männer ihre Speere, mit denen sie nichts ausrichten konnten, gen Himmel erhoben und ein wutentbranntes und markerschütterndes Geschrei ausstießen, das die flimmernde Luft erfüllte.
Der Wasserstrudel zog Enya erneut mit sich.
Doch es folgten keine weiteren Szenen, sondern kurze Einblicke und Bilder. Sie zeigten Kriege, Morde und unendliches Blutvergießen. Mit jeder Impression wuchsen bei Enya die Fassungslosigkeit und das Entsetzen. Zuletzt drängte sich der ausbrechende Vesuv in ihre Gedanken.
Die Hüterin des Feuers fühlte sich wie in einem Albtraum. Kalter Schweiß legte sich auf ihren Körper, während sich ihr Atem mit jedem grässlichen Bild beschleunigte.
Und plötzlich war es vorbei.

Enya fand sich schnell atmend in Sapiencias Küche wieder und versuchte sich wieder vollends auf die Realität zu konzentrieren. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, bemerkte sie, dass ihre Großmutter sie anstarrte.
„Das war heftig“, sagte ihre Enkelin blinzelnd. „Wie lange hat es gedauert?“
„Wenige Sekunden, um genau zu sein“, antwortete Felis, der es sich wieder auf Enyas Schoß gemütlich machte und auf ihre Streicheleinheiten wartete.
„Zeit spielt bei Erinnerungen und Einblicken keine Rolle, so wie auch ein Traum des Nachts nicht lange währt“, erklärte Sapiencia. „Ich hoffe, sie haben dir nochmals gezeigt, wozu die Menschen fähig sind.“
Enya nickte wortlos und schluckte den Kloß hinunter, der in ihrem Hals feststeckte.
„Sag mir, was du fühlst.“
Enya war etwas überrascht über die Frage. Sie überlegte. Die Wut, die sie vorhin bei der Erwähnung der Menschen verspürt hatte, war verflogen und hatte einer unendlichen Trauer Platz gemacht. Doch sie spürte auch etwas anderes. Hoffnung. Entschlossenheit. Der unermüdliche, unendlich starke Wille, etwas zu ändern, statt tatenlos zuzusehen.
„Ich verstehe.“ Sapiencia nickte. Anscheinend hatte sie in den Gedanken ihrer Enkelin gelesen. „Aber lass dir etwas sagen: Amariter ist noch viel schlimmer als die Menschheit.“ Die ältere Frau schnitt den Kuchen an und legte ein weiteres Stück auf ihren Teller. „Das hast du aber bestimmt schon beim Mord an Aura bemerkt, nicht wahr?“
„Ja“, sagte die Hüterin des Feuers kurz angebunden. Ihre Augen brannten, als sie an den Tod ihrer Freundin erinnert wurde. „Aber ich kann nicht glauben, dass nichts Gutes mehr in meiner Mutter steckt.“
Sapiencia biss in ihr zweites Kuchenstück. „Das habe ich niemals behauptet.“
Enya sah sie überrascht an: „Du denkst also ebenfalls, dass noch etwas von Victoria übrig ist?“
„Ich glaube, dass das Böse niemals die Oberhand gewinnt. Bei Drago hast du es besiegt.“ Sie strich sich die Schürze glatt.
„Also ist Victoria nicht tot, oder?“
„Nein.“
„Mein Vater hat aber etwas anderes behauptet.“
Sapiencias dunkle Augen bohrten sich in Enyas, als sie antwortete: „Er will dich beschützen. Sagt er dir die Wahrheit, so ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich die Prophezeiung erfüllt.“
„Aber du hast es getan.“

„Die Wahrheit ist oft –nicht immer, aber oft- besser als die Ungewissheit. Und in diesem Fall sagt mir mein Gespür, dass es stimmt.“
Die Hüterin des Feuers blinzelte. „Vielleicht kann ich meine Mutter noch retten.“
Sapiencia antwortete nicht.
„Kannst du in die Zukunft blicken?“, fragte Enya. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit. Vielleicht weiß sie, ob ich bei dem Versuch sterben werde, meine Mutter zu retten. „Manchmal macht mir der Gedanke Angst… Dass mein Leben vorbestimmt ist, und ich dem gezeichneten Pfad folgen muss.“
Sapiencia blickte sie direkt an. „Was bedeutet schon Vorbestimmung? Steht es denn wirklich im Gegensatz zur Selbstbestimmung?“ Sie machte eine Pause, als erwartete sie eine Antwort, sprach dann aber weiter. „Nein, denn Vorbestimmung bedeutet, dass das Universum schon im Vorhinein weiß, wie wir uns entscheiden werden. Aber die Entscheidung selbst treffen wir selbst unabhängig, ohne dass das Universum uns hinführt. Wir selbst treffen unsere eigenen Entscheidungen und das Universum gibt uns Kraft dabei.“
„Aber… Dann weiß das Universum, ob wir eine richtige oder falsche Entscheidung treffen?“, fragte Enya dazwischen.
„Ja. Aber das ist nichts Beunruhigendes. Denn wenn wir in Einklang und Respekt mit unserer Umwelt, die uns alle umgibt, leben, dann werden wir auch die richtige Entscheidung treffen.“
Enya nickte unsicher. Sie machte den Mund für die finale Frage auf, doch diesmal fuhr ihre Großmutter dazwischen. „Ich weiß, ob du sterben wirst“, versicherte sie. Sie hatte erneut ihre Gedanken gelesen.
Enya starrte sie wortlos an und wartete.
„Doch diesmal ist die Ungewissheit besser als die Wahrheit. Du musst dich entscheiden. Das wird schlussendlich dein Schicksal besiegeln. Die Entscheidung liegt bei dir. Bei dir allein.“
Die Hüterin des Feuers nickte entschlossen. Ich werde den Krieg verhindern, entschied sie in Gedanken, ~egal ob ich dabei zugrunde gehe oder überlebe. Egal, ob es letztendlich mein Leben kostet.~
„Wie ich sehe“, sagte Sapiencia mit einem gezwungenen Lächeln, „hast du dich entschieden.“
Wieder nickte Enya.
„Dann bist du hiermit entlassen. Ich habe meine Aufgabe erfüllt.“ Als ihre Enkelin aufstand, erhob sich die ältere Frau ebenfalls.
„Du hast einen interessanten Charakter“, sagte ihre Großmutter mit einer unverhohlenen Spur Anerkennung. „Deshalb also hat dich Entarna auserwählt. Denke daran, dass sie immer bei dir sein wird, auch in den schlimmsten Momenten deines Lebens.“ Ihre Stimme hatte einen unheilvollen Klang angenommen, der bei den nächsten Worten jedoch wieder verschwand. „Es tut mir leid, was du in der Menschenwelt durchmachen musstest. Gerade du hast das nicht verdient. Du hattest keine Freunde, nur deine Familie. Es ist nicht schön, ein solches Los zu ziehen. Ich wünsche dir viel Glück in der Schlacht.“ Sie sah ihrer Enkelin fest in die Augen: „Denke daran: Mut, Ehre und Tapferkeit münden in etwas… Faszinierendem. Du wirst es erkennen. Es sind die Mittel, die du brauchen wirst.“
Als Enya sich entfernte, rief ihre Großmutter: „Vergiss dein Stück Bananenbrot nicht.“ Sie lächelte seltsam, als ihre Enkelin zurücklief.
„Und, Enya: Du hast die richtige Entscheidung getroffen.“

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