Kapitel 27

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

Nachdem sie den widerlichen Wald verlassen hatten, war es nur noch eine halbe Stunde Fußweg bis zu Sapiencia. Wie sich herausstellte, war diese schleunigst wieder zurückgelaufen, nachdem sie erkannt haben musste, dass die drei Gefährten allein wieder herausfinden konnten.
Jordan schüttelte verblüfft den Kopf und wandte sich Drago zu: „Kann sie etwa fliegen?“
Drago erwiderte darauf nichts. „Das erste, was du bei meiner Schwiegermutter tust“, sagte er stattdessen, während sie liefen, „ist eine Dusche.“
Der Hüter der Erde nickte zustimmend.
Enya vertrieb die letzten grässlichen Gedanken an den düsteren Ort. „Es war absolut schrecklich“, sagte sie zu ihrem Vater.
„Ich musste das tun, um euch auf eure zukünftige Aufgabe vorzubereiten. Es war eine gute Übung“, erwiderte dieser.
Enya schnitt eine verächtliche Grimasse, und auch Jordan sah nicht wirklich begeistert aus.
„Ich habe nichts gelernt“, sagte er, „abgesehen davon, wie man in Treibsand, der entgegen der Schwerkraft wirkt, überlebt und ein Bad in Dreck macht, bis man wie eine Kloake stinkt.“

Doch kurz darauf wurden sie wieder zum Staunen gebracht. Ein Fluss kreuzte ihren Weg durch die Wiese.
„Man muss ihm lediglich nach links folgen, dann gelangt man zu deiner Großmutter“, sagte Drago. „Es ist übrigens derselbe Fluss wie damals am Tor zur Menschenwelt, durch das du nach Dragosia gelangt bist.“
Das Besondere war nicht der Fluss, fand Enya. Das Besondere war der Wasserfall mit dem kleinen See, in dem der Fluss nach fünfzehn Minuten Fußmarsch mündete. Die Kulisse war von weitem in dichten, feuchten Nebel eingehüllt.
Sapiencias Wohngemach war in die Felswand des Wasserfalls eingelassen.  Ein sandiger, frisch geharkter Weg führte zu der Wohnung. An den Seiten des Pfades waren verschiedenfarbige Stiefmütterchen gepflanzt. Die grün lackierte Tür war von einem Rosenspalier umgeben; über der Tür vereinigten sich die beiden verschiedenfarbigen Blumenstöcke. Links und rechts neben dem Eingang befand sich je ein quadratisches Fenster mit Blumenkästen und hölzernen, geschnitzten Windrädern.
Ohne ein weiteres Wort klopfte Drago an die Tür.
„Moment!“, rief daraufhin eine helle Stimme, und es waren Schritte auf Parkett zu hören.
Während sie warteten, lauschte Enya dem Rauschen des herabstürzenden Wassers und besah sich die Fußmatte genauer. In verschnörkelten Buchstaben stand darauf geschrieben:

Achtung vor der Katze!

Sie blickte Jordan fragend an, doch auch er zuckte die Schultern.
„Das Viech lebt also noch“, brabbelte Drago, bevor sich die Tür schließlich öffnete.
Eine ältere Frau stand mit in die Hüfte gestemmten Händen vor ihnen. Sie war weder dick noch dünn, aber ziemlich klein. Ihre grauen krausen Haare, die einmal schwarz gewesen sein mussten, waren zu einem provisorischen Dutt zusammengebunden, und sie trug ein weißes T-Shirt, Jeans und eine grüne Schürze mit aufgestickten Blumen. Sie besaß lebhafte, dunkle Augen und weiche Gesichtszüge.
Stirnrunzelnd betrachtete Sapiencia die Ankömmlinge. „Drago“, sagte sie langsam, als hätte sie den Namen lange Zeit nicht mehr ausgesprochen. Daraufhin verwandelte sich der Drache in seine Menschengestalt zurück, wobei glitzernde Funken aufstoben. Jordan und Enya wichen ein wenig zurück. Sapiencia gab während der eindrucksvollen Szenerie ein etwas genervtes „Pf…“ von sich und würdigte ihn keines Blickes mehr.
Als wäre nichts geschehen, wendete sie ihre Aufmerksamkeit Jordan zu. Ob es an seiner schmutzigen Kleidung lag, konnte Enya nicht einschätzen.
„Du bist der Hüter der Erde, nicht wahr?“, fragte sie interessiert.
Jordan nickte unsicher.
„Und wie heißt du?“, wollte sie anschließend wissen.

Bevor er antworten konnte, schüttelte sie schon den Kopf. „Ach, natürlich. Jordan. Wie konnte ich es vergessen? Das stand doch letzte Woche erst im Dragasischen Kurier. Sogar mit Foto.“
„Wir waren in der Zeitung?“, fragte Enya ungläubig.
Sapiencia richtete ihre braunen Augen auf sie. Ohne auf die Frage einzugehen, sprach sie es leise und mit zitternder Stimme aus: „Meine Enkelin.“ Sie machte einen Schritt auf die Hüterin des Feuers zu. „Dieselben Augen wie deine Mutter.“ Ihre Stimme zitterte.
Drago unterbrach die Szene, indem er Enya von hinten in die Wohnung hineinschob. „Wir haben viel zu besprechen“, sagte er ohne jegliche Erklärung.
„Jaja“, erwiderte Sapiencia schnüffelnd und verschränkte die Arme. „Kommt einfach herein.“ Der schnippische Unterton war nicht zu überhören.
Sie folgte den Gästen und schloss die Tür hinter sich.
„Enya, du kommst zuerst mit mir in die Küche.“ Sie verschwand um die Ecke.
Die Hüterin des Feuers schaute ihren Vater an.
„Geh schon“, sagte Drago. Dann rief er Sapiencia zu: „Jordan nimmt ein Bad und ich gehe ins Wohnzimmer, in Ordnung?“
„Alles klar“, rief seine Schwiegermutter zurück.
Sie sah ihrem Vater hinterher, wie er ohne ein weiteres Wort das etwas altertümlich eingerichtete, aber dennoch gemütliche Zimmer betrat. In einem alt wirkenden Kamin knisterte leise ein Feuer, davor stand ein braunes, abgewetztes Sofa. An der Wand hingen schöne Gemälde von allen erdenklichen Landschaften Dragosias. Vermutlich hatte sie Sapiencia selbst gemalt.
Zögernd lief Enya zu ihrer Großmutter in die Küche, die derweil ein mit Kuchen beladenes Backblech aus dem Ofen nahm.
Sapiencia legte es auf einem kleinen Holz-Klapptisch inmitten des Raumes ab und setzte sich auf einen der beiden dazugehörigen Stühle. Enya setzte sich ihr gegenüber.
„Ich hoffe, du isst gern Bananenbrot“, sagte die ältere Frau.
„Äh… ich habe es noch nie gegessen“, stammelte Enya.
„Dann wird es höchste Zeit.“ Sie ließ ihre Enkelin nicht aus den Augen. „Du wirst Dragosia also den Frieden bringen?“ Sie sagte es beiläufig, als ob sie fragen würde, wie ihr letztes Zeugnis ausgefallen war.
Die Hüterin des Feuers zuckte die Schultern. Was ist das denn für eine Frage?, dachte sie verärgert.
„Eine sehr berechtigte, würde ich sagen.“ Ein Schmunzeln huschte über Sapiencias Gesicht.
Enya betrachtete das Stück Kuchen, das ihre Großmutter auf ihren Teller legte. „Kannst du Gedanken lesen?“, fragte sie und schaute wieder auf.

Sapiencia lächelte. „Ich hoffe, das beunruhigt dich nicht.“ Sie faltete ihre Hände auf dem Tisch zusammen. „Es ist mir sehr wichtig, dass du weißt, wofür du eigentlich kämpfst. Auf wessen Seite du stehst. Was genau du willst.“
Enya nickte schweigend und fragte sich, wann sie endlich von diesem seltsamen Ort weggehen konnte. Das Gespräch war ihr unangenehm. Gleichzeitig versuche sie, diese Gedanken zu unterdrücken, damit ihre Großmutter sie nicht bemerkte.
Ein lautes Maunzen durchbrach die Stille. „Kriege ich auch ein Stück?“, wollte eine wichtigtuerische Stimme wissen.
Sapiencia hob die Augenbrauen. „Felis! Denke an deine Manieren. Vor allem, wenn wir Besuch haben.“
Der schwarze Kater sprang mit einem Satz auf Enyas Schoß. Sie zuckte zusammen, rührte sich aber nicht vom Fleck.
„Ich denke gar nicht dran“, miaute er und begann, seinen silbernen Bart zu putzen.
„Ein hoffnungsloser Fall“, erklärte Enyas Großmutter. „Ich habe vor zehn Jahren Gloria in der Menschenwelt besucht, und sie hat ihn mir als kleines Kätzchen geschenkt.“
„Kleines Kätzchen“, äffte Felis nach und verdrehte theatralisch die Augen.
„Ja, das warst du!“, schimpfte Sapiencia. „Doch das kleine, süße, verwaiste Kätzchen aus dem Tierheim wurde erwachsen. Und jetzt habe ich einen besserwisserischen, ständig lamentierenden Kater am Hals.“
Felis schob die Unterlippe vor.
„Na gut, das war etwas heftig. Du bekommt ein Stück Kuchen.“
Enya sah zu, wie sie das Bananenbrot schnitt und Felis überreichte, der es gierig mit drei Happs hinunterschlang und sich mit der Zunge die Schnauze abschleckte.
Anschließend rollte sich der Kater zusammen und schob die Schwanzspitze über die Nase. Seine Augen verengten sich zu schläfrigen Schlitzen.

Der Hüterin des Feuers fiel auf, dass das eine blau und das andere braun war.
„Diese Augen sind ja faszinierend“, sagte sie zu ihrer Großmutter.
Doch diese verzog das Gesicht, als hätte ihre Enkelin eine tickende Bombe vor ihre Füße gelegt.
„Ich bin die einzige Katze auf der Welt, die solche Augen hat. Ich bin in gewisser Weise einzigartig“, fing da auch schon Felis an zu erzählen. „Man züchtet Katzen schon seit Jahrhunderten, aber eine solche Augenfarbe… Völlig faszinierend, wie du schon sagtest. Nur ein Gentleman- so wie ich- hat das Recht, so verzückende Augen zu haben. Wirklich schade, dass es in Dragosia keine Kätzinnen gibt… die Säbelzahntiger ausgeschlossen. Die sind ja regelrecht antik-“
„Was?“, unterbrach Enya perplex die unendliche Rede des Katers. „Was sagtest du da? Säbelzahntiger?“
Sapiencia, die zuvor das Gesicht in den Händen vergraben hatte, schreckte auf. Anscheinend musste sie sich öfter derartige Reden von Felis anhören.
„Ja“, sagte sie seltsam lächelnd, als ob es genau das Thema wäre, das sie ursprünglich ansprechen wollte. „In Dragosia gibt es noch Säbelzahntiger. Fabelwesen wie Einhörner auch, um genau zu sein. Und außerdem alle von den Menschen ausgerotteten Tier- und Pflanzenarten. Das Königreich bietet allen Lebewesen Platz, die aus eurer Welt vertrieben wurden. Sei es aufgrund von verschlechterten Lebensbedingungen, Naturkatastrophen- oder dem Menschen.“
Eine eigenartige Wut stieg in Enya auf, als sie die Erwähnung von den Menschen hörte. Sie zerstören alles, dachte sie verächtlich.
„Oh ja“, stimmte Sapiencia zu. Triumph leuchtete in ihren Augen auf.
Enya betrachtete ihre Großmutter unsicher.
„Dieses Gespräch“, erklärte diese, sobald sie das verstimmte Gesicht ihrer Enkelin sah, „wird dich auf den Krieg vorbereiten. Wir müssen alle deine Gedanken, Gefühle und Erinnerungen durchforsten und genau verarbeiten. Und soeben habe ich Zorn entdeckt, der dir nicht hilfreich sein wird.“
Die Hüterin des Feuers schluckte.
„Gib mir deine Hand“, sagte sie, und ihr Tonfall war zwar sanft, erduldete aber keine Widerrede.
Enya gehorchte, und beinahe sofort wurde ihr schwarz vor Augen. Sie hörte gerade noch Felis protestierend maunzen und von ihrem Schoß springen, dann wurde sie von ihrer Vergangenheit eingeholt.

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