„Sie wird euch gefallen“, sagte Drago, während sie durch den Dragasischen Wald liefen.
Enya und Jordan gingen nicht darauf ein, und der Drache peitschte lediglich enttäuscht, dass ihm niemand antwortete, mit dem schuppigen Schwanz.
Enya musste an Aura denken, und der Hüter der Erde hing wahrscheinlich ebenfalls seinen Gedanken nach.
Ein Glück, dass Noemi und den Küken nichts zugestoßen ist, erinnerte sie sich erleichtert. Die Amsel hatte ihr Nest direkt auf das Dach von Enyas Baumhaus verlegt, nicht zuletzt, damit diese fortan nicht allein sein würde. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie betroffen Noemi über den Tod ihrer Freundin war. Sobald Enya die traurige Nachricht verkündet hatte, mussten sie und Jordan aber auch schon los, um Sapiencia aufzusuchen. Bereits seit zwei Stunden waren sie auf dem Weg.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was dieser Besuch bringen soll, seufzte sie innerlich auf.
Schließlich hatte sie es satt, zu schweigen.
„Kann sie dich gut leiden?“, wollte Enya von ihrem Vater wissen.
Drago blickte sich erfreut zu ihr um, lief aber weiter. Hinter sich hörte sie Jordans Schritte.
„Bei ihr weiß man nie so genau. Ich vermute, dass sie mir die Sache mit der Verwandlung von Victoria zu Amariter übelnimmt, aber ansonsten ist sie so freundlich wie eh und je.“
„Vielleicht will sie sich ihre Wut nicht anmerken lassen“, vermutete die Hüterin des Feuers.
„Sapiencia ist niemals wütend. Sie hält sich von solchen Gefühlen fern. Sie ist nur traurig, dass ich damals der dunklen Magie aus Verzweiflung nachgegeben und ihre Tochter verunstaltet habe.“
„Glaubst du, sie kann mich leiden?“, hakte Enya weiter nach.
„Ich denke schon. In gewissen Dingen seid ihr euch sehr ähnlich.“ Er machte eine Pause. „Ich schätze, dein Dragosia wird sie beeindrucken.“
Charakterstärke, rief sie sich die Bedeutung des Wortes in Erinnerung.
Der Wald lichtete sich und machte einer blaugrünen, nackten Wiese Platz. Fünf alte Kopfweiden standen im Kreis zueinander. Die kahlen Äste hoben sich wie Arme in den Himmel, der grau und bewölkt war.
„Die Tristia-Weiden“, erklärte Drago. „Übersetzt in eure Sprache: Die Kummerweiden. Ich habe sie gepflanzt, als Victoria gestorben war. Allerdings komme ich noch oft hierher.“ Er blickte zu Enya. „Im Kreis befindet sich etwas, das du dir anschauen solltest. Du musst wissen, dass der Schein trügt: Zwischen den Weiden sieht es in Wirklichkeit anders aus, als es dir jetzt vorkommt.“
Enya schaute ihren Vater verwirrt an. Inmitten der Weiden gibt es nichts!
Nichtsdestotrotz trottete sie zu den Bäumen. Dichter Nebel umfing sie wie ein Mantel. Im Hintergrund sah sie gerade noch die Silhouette von einem Nadelwald.
Ein letzter Schritt, und Enya befand sich in der Mitte der Bäume. Sie blinzelte und fuhr sich über die Augen, als sie die Umgebung um sich herum wahrnahm.
Von innen betrachtet, trugen die Kopfweiden seltsamerweise ein prachtvolles Blätterkleid. Die Sonne strahlte über ihr, obwohl sie wenige Augenblicke zuvor von dichten, undurchdringlichen Wolken bedeckt gewesen war, und der Rasen besaß ein kräftiges Grün. Das riesige Blätterzelt ließ trotz seiner Fülle den Sonnenschein hinein.
Doch das Seltsamste befand sich vor ihren Füßen.
Gräber!
Enya schnappte nach Luft und betrachtete stirnrunzelnd die drei Begräbnisstätten.
Auf dem einen befanden sich rote Rosen. Auf dem dazugehörigen, wunderbar geschliffenen Grabstein stand der Name ihrer Mutter: Victoria.
Sie war sich sicher, dass kein Körper unter der Erde verweilte. Schließlich lebte Amariter noch. Wahrscheinlich hatte Drago das Grab geschaffen, um sich von Victorias Geist zu verabschieden.
Daneben war ein winziges Grab, und es sah genauso aus, wie die Hüterin des Feuers es damals zurückgelassen hatte.
Gänseblümchen bildeten einen weichen Rahmen und erweckten den Eindruck an ein Himmelbett. Es war Fidels Grab.
Enya spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen, doch sie lächelte dennoch.
Das dritte Grab war neu. Blaues Vergissmeinnicht wiegte sich leise in der Sommerbrise, und violett-weiße Stiefmütterchen bildeten einen sanften Kontrast.
„Aura“, murmelte Enya. Nun war der Bann endgültig gebrochen; salzige Tränen flossen ihre Wangen hinunter.
Sie trat einen Schritt näher. Auf dem Grabstein war die gesamte Geschichte eingraviert, die sie ihrer sterbenden Freundin erzählt hatte.
Sie hörte einen Vogel zwitschern, und instinktiv wusste sie, dass es ein bestimmter war.
Etwas berührte ihre Schulter. Es fühlte sich an wie eine Hand.
Sie leben, dachte Enya. Nicht hier, aber bei Entarna. Und sie werden auf mich warten, wie lange es auch dauern mag.
Enya genoss den Duft der Blumen und sah schweigend die Gräber an.
Wie wird wohl meine letzte Ruhestätte aussehen?, fragte sie sich. Und wie hat Drago es überhaupt geschafft, die Gräber hierhin zu zaubern?
Sie schüttelte den Kopf. Sie musste zurückkehren. Vielleicht konnte Sapiencia einige ihrer Fragen beantworten.
Wortlos drehte sie sich um und verließ den wundervollen verzauberten Baumkreis.
Draußen empfingen sie wieder eine trostlose, verkümmerte Wiese, ein wolkenverhangener Himmel und ein dichter Nebel.
Drago und Jordan kamen auf sie zu.
„Und?“, hakte der Hüter der Erde nach.
„Gräber“, antwortete Enya kurz angebunden.
Jordans Kinnlade fiel herunter. „Gräber?“, widerholte er.
Er schielte an ihr vorbei, doch Enya wusste nur zu gut, dass er sie nicht sehen würde.
Ohne ihm genaueres zu erläutern, wandte sie sich an ihren Vater: „Wo lang müssen wir jetzt gehen?“
„In diese Richtung“, meinte er und wies mit dem Kinn auf den Nadelwald, der sich gegenüber des Dragasischen Waldes befand.
„Wie heißt er?“, wollte Enya wissen.
„Er trägt keinen Namen“, murmelte der Drache. Dann lief er weiter.
Jordan und Enya folgten ihm.
„Von wem waren die Gräber?“, fragte er sie leise.
„Von meiner Mutter, Fidel und Aura“, sagte sie gedankenverloren. Die Trauer schnürte ihr noch immer die Kehle zu.
„Ich konnte es gar nicht glauben, als Drago Aura und mir erzählte, dass du mit Amariter verwandt bist“, bemerkte Jordan.
Enya antwortete nicht. Bei dem Gedanken an die scheußliche Hexe wurde ihr übel.
„Von nun an müsst ihr aufpassen“, sagte Drago vor ihnen unvermittelt. „Dieser Wald ist verzaubert. Viele Menschen und Tiere haben sich verlaufen bei dem Versuch, ihn zu durchqueren. Haltet euch immer dicht bei mir. Ich werde immer so weit rechts laufen, dass wir die Wiese neben uns noch sehen können.“
Auf Enyas Haut bildete sich Gänsehaut.
Der Nebel war noch dichter geworden und waberte nun unheilvoll um ihre Füße. Die Nadeln der Bäume blitzten dunkelgrün auf und piksten in ihre Arme. Sie schaute in den Wald hinein. Er war dunkel und unheimlich, und je weiter sie sah, desto schwärzer wurde er.
„So einen Wald habe ich ja noch nie gesehen“, entfuhr es Jordan. „Warum ist er bloß so dunkel?“
„Keine Ahnung. Je schneller wir ihn passieren, desto besser“, sagte Enya schulterzuckend.
Als sie schweigend am Wald vorübergingen, sah sie immer wieder nach rechts, und jedes Mal schien die Wiese weiter weg zu sein.
Ich hoffe, wir sind bald bei Sapiencia!
Auch Drago strahlte Unsicherheit aus. Seine Schritte beschleunigten sich mit jedem gelaufenen Meter.
„Einmal habe auch ich mich hier verlaufen“, erzählte er seiner Tochter, ohne sich umzudrehen. „Es war schrecklich. Ich fühlte mich, als hätte ich Fieber und würde halluzinieren. Überall waren seltsame Schatten, und die Welt schien sich um meinen Kopf zu drehen. Irgendwann drang Licht durch mein verschleiertes Blickfeld, und ich fand den Weg nach draußen.“
„Wie hast du es geschafft?“, fragte Enya.
„Sapiencia leuchtete mit einer Fackel in den Wald. Ich sah den Lichtstrahl und folgte ihm.“ Die Hüterin des Feuers lauschte dem Geräusch der Schuppen ihres Vaters, die sich beim Laufen aneinander rieben. „Ich habe ihr sehr viel zu verdanken. Es war nicht das erste Mal, dass sie mir geholfen hat.“
„Ich bin gespannt, ob sie Gloria ähnlich sieht“, sagte sie sehnsüchtig.
Sie drehte sich um. „Freust du dich auch schon, Jordan?“
Doch hinter Enya stand niemand mehr. Es waren noch nicht einmal Fußspuren des Jungen zu sehen.
Wo ist er? Angst keimte in Sekundenschnelle in ihr auf.
Sie suchte hektisch mit den Augen den Wald ab, doch es war, als ob sie in einen unendlich tiefen Brunnen sehen würde.
Schnell lief sie zu ihrem Vater, bis sie nebeneinander liefen. „Jordan ist nicht mehr da!“ Hysterie schlich sich in ihre Stimme.
Drago starrte sie sprachlos an und blieb stehen. Einen Moment lang verharrte er erschrocken, dann fing er sich wieder. „Jordan!“, rief er in den undurchdringlichen Wald. Seine Stimme schallte zurück, als würde sie gegen eine Wand prallen.
Enya wurde es eiskalt und brennend heiß zugleich. „Was tun wir denn jetzt?“, piepste sie.
Ihr Vater drehte sich um die eigene Achse, Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen wider.
„Komm mit“, sagte er.
Mit diesen Worten marschierte er in den dunklen Wald hinein.
Enya sah unsicher nach rechts zur Wiese.
Du wirst nie wieder den Weg hinaus finden, wenn du ihm folgst, meldete sich eine zarte Stimme in ihrem Kopf zu Wort.
Egal, entschied sie und lief ihrem Vater hinterher.
Der Nebel verschluckte sie, und bizarre Formen bildeten sich im Dunst. Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken, doch als sie hinunter blickte, sah sie nur feuchte schwarze Erde.
Lass dich nicht beirren, rief sich Enya zur Vernunft.
„Es wird schwer sein, ihn zu finden“, sagte Drago matt.
Die Hüterin des Feuers hielt sich dicht an seiner Seite. „Was sollen wir nur tun?“
„Ich weiß es nicht.“
Plötzlich ertönten schrille Schreie in ihrem Kopf. Schmerzerfüllt legte sie ihre Hände auf die Ohren.
„Was ist das für ein Gekreische?“, wollte sie mit verzerrtem Gesicht von ihrem Vater wissen.
Der Drache schüttelte den Kopf: „Ich höre es nicht. Dieser Wald spielt jedem einzelnen Lebewesen einen individuellen Streich.“
Im selben Moment verklang das grässliche Geräusch. Enya atmete schweißbedeckt auf.
„Du musst dich auf deine Sinne verlassen, so sehr sie auch benebelt werden. Höre bloß nicht auf diese Trugspiele. Sonst weißt du nicht mehr, was Schein und Trug und was die Wirklichkeit ist“, warnte Drago.
Sie liefen weiter. Mit jedem Schritt sank ihre Hoffnung, Jordan zu finden.
„Versuche, mit ihm Kontakt aufzunehmen“, schlug Drago vor und blieb schließlich an einem schwarzen, glitschigen Baumstumpf stehen. „Ihr seid beide Elementhüter. Normalerweise müsstet ihr in der Lage sein, in schwierigen Situationen in Kontakt zu treten.“
Enya schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie wurde von schwarzer Düsternis empfangen, doch im Hintergrund gab es ein schwaches Leuchten.
Sie machte einen Schritt nach rechts, doch der Lichtschimmer verblasste. Danach bewegte sie sich etwas nach links, und der Schein wurde heller.
„Da entlang“, wies sie ihren Vater an, und sie machten sich auf den Weg.
Als sie ihrem Ziel näherkamen, ertönte ein seltsames Geräusch.
Drago wurde schneller. „Das hört sich wie ein gehetztes Tier in Not an!“
Auch Enya vernahm das angestrengte Keuchen. Es konnte also kein Hirngespinst sein.
Sie beschleunigte ihre Schritte und überholte schnell atmend ihren Vater.
Auf einmal rutschten ihre Füße auf dem glatten Boden weg. Ihr Herz schien auszusetzen, als Drago sie blitzschnell mit einer Klaue am Hemdkragen packte und zurückzog.
„Geh zurück“, knurrte er durch zusammengebissene Zähne. „Du wärst beinahe in einen Abgrund gefallen.“
Enya atmete überrascht auf und beugte sich mit zusammengekniffenen Augen nach vorne: Wenige Zentimeter vor ihr fiel der Boden zu einer Felsschlucht ab.
„Danke“, murmelte sie.
Das seltsame Geräusch war lauter geworden und vermischte sich mit einem Ausruf: „Ist da jemand?“
„Jordan!“, sagten Drago und Enya gleichzeitig wie aus einem Munde.
Die Hüterin des Feuers machte einen weiteren Schritt vom Abgrund weg und rief zurück: „Wo bist du?“
Das Schnappen nach Luft wurde lauter, als ob sich Jordan anstrengte. „Seht mal nach rechts!“, antwortete er schließlich.
Der Drache tat wie geheißen. Enya folgte seinem Blick und erstarrte.
Jordan steckte ungefähr zehn Meter weiter bis zur Hüfte in einer seltsamen, schlammigen Pfütze fest. Immer wieder stiegen kleine Luftbläschen auf. Er war ungefähr einen halben Meter vom Abgrund entfernt.
„Wie hast du das denn geschafft?“, fragte Enya und lief zu ihrem Freund. Sie trat an den Schlamm heran, wohlbedacht, ihn nicht mit den Füßen zu berühren.
Drago riss derweil seltsame olivgrüne Lianen von den Bäumen ab.
„Keine Ahnung“, gestand Jordan. „Ich bin gelaufen, und plötzlich hat sich alles so komisch gedreht. Ich bin irgendwie vom Weg abgekommen, und nach einiger Zeit bin ich gestolpert, aufgeschreckt losgerannt und hier gelandet.“ Er spannte sich angestrengt an, als ob er nach Halt suchte. „Und sobald ich realisiert habe, dass ich in einer überaus gemeinen Pfütze gelandet bin“, sagte er und atmete schneller, „habe ich herausgefunden, dass es eine starke Strömung gibt, die direkt in Richtung Abgrund führt!“
„Hervorragend“, stöhnte Enya.
„Es ist praktisch wie Treibsand. Der einzige Unterschied liegt darin, dass der Sog nicht nach unten geht, sondern zur Seite“, erklärte Jordan. „Entgegen der Schwerkraft, versteht sich.“
„Sehr ermunternd“, erwiderte die Hüterin des Feuers sarkastisch.
In diesem Augenblick kam Drago herbei.
„Bei drei fängst du die Liane auf“, befahl der Drache.
„Eins. Zwei.“ Er holte aus. „Drei!“
Jordan erfasste die Pflanze, und mit einem gewaltigen Ruck zog Drago den Jungen aus dem Boden.
Die Pfütze schmatzte ärgerlich auf, als ob sie in etwas sagen würde: Verflucht! Das wäre die erste Mahlzeit seit Jahrzehnten gewesen!
Enya betrachtete naserümpfend den Hüter der Erde. Seine erdverklumpten Haarsträhnen hingen ihm büschelweise vom Kopf ab, und seine Kleidung war braun und verklebt. Die Brillengläser waren zerkratzt und das Gestell schief. „Du bist ziemlich schmutzig“, bemerkte sie.
„Ich würde gerne wissen, wie du nach einer Stunde im Dreck aussiehst“, gab dieser zurück.
Drago warf die Liane auf den Boden. Im selben Augenblick leuchtete im Wald –vermutlich am Rande- ein aufloderndes Licht auf. Der Drache atmete erleichtert auf. „Das ist Sapiencia. Nichts wie weg. Und zwar sofort.“
Das ließen sich Enya und Jordan nicht zwei Mal sagen.