Enya fühlte sich leer und kraftlos. Warum bloß musste das geschehen?
Sie griff in Auras Tasche und holte den Button hervor. Langsam befestigte sie ihn an Auras Jacke.
Sie sah zu Plum, der ernst zurückblickte und leise sagte: „Wir können sie nicht hierlassen.“ Und dann begann Enya zu ziehen.
Weinend zog sie ihre tote Freundin zu Dragos Lichtung. Die Pfeile zerrten sachte am Waldboden und stoben einige Blätter auf.
Als sie ankam, war ihre Ruhe komplett verflogen. Ihre Muskeln brannten. Sie legte den toten Körper in der Mitte der Waldlichtung ab, schob Auras Arme ordentlich zusammen und stand auf.
„Ich hasse das alles!“, brüllte sie in die morgendliche Stille. „Sie wird dafür büßen, darauf kann sie sich verlassen!“
Sie holte tief Luft, um lauter zu schreien. „Man weiß nie, was der Morgen einem bringt. Das hat sie gesagt! Und sie behielt Recht!“ Sie spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. „Sie hat den Pfeilregen geschickt! Sie ist schuld!“
Sie sah ihren Vater in Drachengestalt aus der Höhle laufen.
Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen. Als er Aura sah, machte er ihn erschrocken wieder zu. Er verwandelte sich in seine Menschengestalt zurück, ging zu Aura und maß den Puls. „Meine Güte, Enya! Du bist zu Amariter gegangen, stimmt’s?“ Er starrte sie an. „Und sie hat Aura umgebracht?“
Die Hüterin des Feuers antwortete nicht, nur ein Wimmern drang aus ihrer Kehle.
„Also?“, drängte er. Enya schwieg, ein Schluchzen schüttelte sie. Ihr Vater hob eine Augenbraue und wartete.
Schließlich antwortete sie: „Sie hat Pfeile hinter uns hergeschickt. Es war ein ganzer Schwarm.“
Drago seufzte. „Verzauberte Giftpfeile.“
Er trat näher zu seiner Tochter. „Du wolltest wissen, ob in Amariter noch etwas Gutes steckt, nicht wahr?“
Sie nickte.
„Und?“ Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn.
Die Hüterin des Feuers schluckte ein Wimmern hinunter. „Ihre Augen waren plötzlich graublaugrün.“
Dragos Mund verzog sich zu der Spur eines hoffnungsvollen Lächelns, als er fragte: „Ist es geblieben?“
Enya schüttelte den Kopf. „Nach einigen Sekunden verschwand es.“ Das kurze Lächeln auf dem Gesicht ihres Vaters verlor sich ebenfalls.
Er musterte sie von Kopf bis Fuß. „Was ist dann passiert? Wie hast du die Pfeile überlebt?“
„Wir sind gerannt. Irgendwann haben wir uns zu Boden fallen lassen.“ Ihre Kehle war bei der Erinnerung wie ausgedörrt. „Aura hat es nicht geschafft.“
Drago beugte sich zur Hüterin der Luft hinunter. Behutsam zog er ihr die Pfeile aus dem Rücken.
Auf einmal erstarrte er.
Enya sah, dass an einem der Pfeile ein Zettel hing. Blitzschnell zerknüllte ihr Vater das Stück Papier.
„Was stand auf dem Zettel?“, wollte sie wissen.
Drago sah sie herausfordernd an. Die Hüterin des Feuers erkannte eine Spur von Angst in seinen Augen.
„Nichts.“
„Zeige es mir!“
Drago knurrte, was überhaupt nicht zu seiner Menschengestalt passte.
„Ist es von Amariter?“, fragte sie zähneknirschend.
„Ja.“
„Gib es mir!“
Drago seufzte. „Du würdest es sowieso früher oder später erfahren.“ Er überreichte ihr den vergilbten Fetzen Papier.
Enya starrte auf die Buchstaben. Sie verschwammen vor ihren Augen, als die Botschaft in ihren Kopf eindrang.
Das war erst der Anfang, Kleines. Es ist der Beginn eines Krieges. Bei Vollmond werde ich dich an der Drachenstatue auf dem Todeshügel erwarten. Wer bei diesem Krieg gewinnt, erlangt die Herrschaft Dragosias. Sammle also so viele Krieger zusammen, wie du nur kannst.
Es grüßt dich herzlich
Amariter
PS: Danke für deinen Besuch, Süße! Ich hoffe, der Kakao hat dir und deiner lieben Freundin geschmeckt.
Enyas Herzschlag beschleunigte sich, ihre Gedanken rasten und ihre Wut wurde mit jeder Sekunde größer.
„Ich glaube, ich habe die Drachenstatue schon zweimal gesehen. Was hat es damit auf sich?“, durchbrach sie mit schwacher Stimme die Stille.
„Der Todeshügel mit der Drachenstatue erscheint an verschiedenen Orten, so wie Amariters Palast. Dort fanden die Schlachten Dragosias statt, und außerdem alle wichtigen Ereignisse in der gesamten Geschichte Dragosias. Als die Menschen begannen, uns Drachen zu töten, habe ich dort die Leichen begraben. Darüber hinaus…“ Er schlug die Augen nieder. „Dort ist Victoria in jener Nacht gestorben.“
Es wurde wieder ruhig. Niemand sagte ein Wort, jeder war in seine eigenen Gedanken versunken.
Dann baute sich Drago vor ihr auf. Selbst in Menschengestalt war er ziemlich groß.
„Pass jetzt mal auf, Enya“, sagte er ernst. Sein Ton war weich, aber bestimmt. „Es ist kein Krieg, den wir gewinnen können, und ich lasse nicht zu, dass du ihn miterlebst. Wir werden uns zwar mit allen Kriegern dort versammeln, aber ich werde diese Hexe zu einem Duell, einen Zweikampf, auffordern. Wir müssen beten, dass sie mein Angebot nicht ablehnt.“ Er legte ihr seine Hände auf die Schultern. „In Amariter steckt vielleicht noch ein Funken von Victoria, aber man kann ihn nicht wieder hervorholen. So einfach ist das nicht. Ich werde also versuchen, sie zu besiegen, während du mit Jordan wieder hierher zurückkehrst und mit ihm versuchst, den Ausbruch des Vesuvs zu verhindern. Egal was passiert. Hast du verstanden?“
Enya nickte. „Was geschieht, wenn du verlierst?“, fragte sie kleinlaut.
Einen Augenblick lang sah sie Besorgnis in seinem Gesicht aufblitzen, die er aber sofort verbarg. „Ich werde nicht verlieren“, versprach er. Er trat einen Schritt zurück.
„Sollte das im Zweifelsfall dennoch geschehen, müsste euch mein Training behilflich sein, sie in absoluter Not zu besiegen. Wir machen heute weiter.“
Seine Augen leuchteten kurz auf, vermischt mit etwas Besorgnis oder auch Unwillen, und Enya nahm an, dass er eine waghalsige Idee hatte. „Ich werde dich heute zu Sapiencia bringen. Ich schätze, der Weg dorthin wird eine gute Trainingseinheit sein, und sie könnte dich auch seelisch auf den Krieg vorbereiten.“
„Wer ist Sapiencia?“, fragte Enya.
„Die überaus weise Mutter von Gloria und Victoria. Oder, treffender, deine Großmutter.“
„Ich habe eine Oma?“, wiederholte sie erstaunt.
„Selbstverständlich. Dein Großvater ist vor vielen, vielen Jahren gestorben. Er war sterblich. Sapiencia und Gloria sind mit einem ungewöhnlich langen Leben gesegnet, da sie Dienerinnen Entarnas sind. Amariter ist es ebenfalls, da sie in ihrem früheren Leben auch in ihrem Dienst stand.“ Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht. „Überrascht es dich, dass deine Tante schon so lange lebt?“
Als sie begriff, versuchte Enya vergebens, ihre Verwunderung zu verbergen.
„Wie auch immer. Von mir brauchst du keine Großeltern zu erwarten, denn ich bin eines der ersten Lebewesen der Erde.“
Trauer bewölkte seine Augen. „Ich habe keine Eltern und bin dazu verdammt, für immer auf Erden zu bleiben, außer ich werde tödlich von einer Diamantklinge getroffen.“
„Es muss schwer sein, so viele Menschen und Tiere zu überleben“, meinte die Hüterin des Feuers und legte den Kopf schräg. „Ich würde es mir schrecklich vorstellen, ewig zu leben und zu sehen, wie jeder, den ich liebe, schließlich stirbt.“ Dann verstummte sie. „Werde ich auch so ein langes Leben haben?“
Drago seufzte. „Laut der Prophezeiung nicht. Biologisch gesehen, ja. Du hast einen unsterblichen Vater und eine Mutter, deren Tod ebenfalls in weiter Zukunft liegt.“
„Vielleicht bin ich ja ebenfalls unsterblich?“, sagte sie. „Muss sich die Prophezeiung unbedingt erfüllen?“
Drago musterte sie kopfschüttelnd, unendliche Trauer spiegelte sich in seinen Gesichtszügen wider. „Du selbst hast Entarna um deinen Tod gebeten. Auch, wenn sich die Weissagung nicht erfüllt, wirst du also sterben.“
„Ich habe meine Bitte zurückgenommen. Es war Auras Wunsch.“
Drago schloss befreit die Augen. „Heil dir, Hüterin der Luft. Deines letzten Willens wegen bin ich dir zu Dank verpflichtet, auf dass du deine letzte Reise zu Entarna unbeschadet überstehst!“
„Was ist mit ihr passiert?“ Ein erschrockenes Keuchen unterbrach Drago.
Jordan fiel neben Aura auf die Knie.
Enya blinzelte, als der Schmerz sie von Neuem traf. Es ist allein meine Schuld.
Ihr Herz schien zu zerspringen, als sie sich antworten hörte: „Sie ist tot.“
Jordan riss den Kopf herum und starrte ihr fassungslos in die Augen.
„Es… es tut mir leid.“
„Wie ist es passiert?“
„Wir sind losgezogen, um Amariter zu besuchen, weil ich mich vergewissern wollte, ob noch etwas Gutes in ihr steckt. Und dann hat sie einen Pfeilregen geschickt.“
Jordan betrachtete sie weiter sprachlos. Sie sah, dass in seinen grünen Augen Tränen schimmerten, und ihr Kopf schien zu zerbersten. „Es tut mir leid“, wiederholte sie leise mit einem hohlen Gefühl im Bauch.
Erst Fidel, dann Aura. Wer wird der nächste sein?
Enya schlug die Augen nieder.
„Jordan!“, sagte Drago unvermittelt in die entstehende Stille hinein.
Ihr Vater warf einen Gegenstand durch die Luft. Bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich als eine Schaufel.
Jordan fing sie auf und starrte Drago schweigend an.
„Worauf wartest du? Ich habe dir eine Schippe hergezaubert, damit du sie begräbst! Eine Kriegerin Dragosias verdient es, ehrenhaft bestattet zu werden.“
Daraufhin begann der Hüter der Erde weiterhin wortlos, ein Grab zu schaufeln.
Enya schaute ihren Vater mit einem Funken aufkeimenden Zornes an. „Du bist manchmal wirklich herzlos. Ich weiß, das ist vielleicht nicht der passendste Augenblick, aber genauso kalt warst du, als du Neró weggeschickt hast.“
Drago stutzte. Er bearbeitete nervös seine Hände, verhakte sie miteinander und löste sie wieder, als er sich eine wohldurchdachte Erwiderung überlegte.
Damit hat er nicht gerechnet, dachte sie mit einem Anflug des Triumphs.
„Warum hast du das getan?“, fragte sie erneut, als noch immer eine Antwort ausblieb.
Drago strich sich die zerzausten Haare zurecht. „Einerseits wollte ich nicht, dass sich die Prophezeiung erfüllt. Eine Zeile bezog sich auf euch. Andererseits wart ihr euch gefährlich nahe.“
„Das waren wir nicht.“ Die Worte waren schneller aus Enyas Mund gekommen, als dass sie genauer darüber nachdenken konnte.
Drago hob eine Augenbraue, sprach aber unbeirrt weiter, ohne auf die Bemerkung seiner Tochter einzugehen. „Feuer und Wasser ist eine riskante Kombination. Stelle dir vor, ihr hättet beim Ausbruch des Vesuvs zusammenarbeiten müssen. Das ist der wunde Punkt. Ihr hättet nicht zusammen, sondern gegeneinander gekämpft, und das wäre in einer Katastrophe geendet. Feuer und Wasser können nicht zusammen sein. Über kurz oder lang gewinnt das eine Element die Oberhand, und das andere erlischt. Verstehst du?“
„Das ist nur eine Theorie! Wir hätten eine Lösung gefunden!“ Enyas Stimme überschlug sich. „Jordan und ich können den Vulkanausbruch nicht zu zweit aufhalten.“
„Ihr sollt ihn nur hemmen, um Zeit zu gewinnen!“, knurrte Drago.
Enyas Sicht wurde verschwommen. Vermutlich nur die Müdigkeit.
„Bitte, hole ihn zurück und gebe ihm sein Gedächtnis zurück!“, sprach sie unbeirrt weiter und blinzelte, um klarer zu sehen.
Drago kniff die Augen nachdenklich zusammen. „Ich werde es mir überlegen.“ Er drehte sich um. „In einer halben Stunde werde ich dich und Jordan zusammenrufen. Ich bereite derweil alles für die Reise zu Sapiencia vor.“ Und damit verschwand er in seiner Höhle.
Enya setzte sich auf den staubigen Boden. Und was jetzt? Sie ließ ihre Hand in den sandigen Boden gleiten und die feinen Körner durch die Finger hindurchrieseln.
Auf einmal merkte sie, wie sich ihr Puls beschleunigte. Die Realität, Jordan, der das Grab schaufelte, schienen aus ihrem Bewusstsein zu schwinden. Sie krümmte sich krampfhaft zusammen, als das Bild vom ausbrechenden Vesuv in ihrem Kopf auftauchte. Der Boden schien zu beben, und ihr wurde eiskalt.
Enya versuchte sich zu beruhigen, ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Mit aller Kraft dachte sie an ein erlöschendes Feuer. Die Bilder verschwanden langsam aus ihrem Kopf, ihre Atemzüge beruhigten sich.
Schließlich keuchte sie erleichtert auf und öffnete die in Angst zugekniffenen Augen.
„Setare Chenare Apricot Set!“, riss Plums stolze Stimme sie in die Wirklichkeit zurück. Er lief neben Peach her, wobei diese begeistert kicherte.
Als sie die Hüterin des Feuers sahen, blieben sie besorgt vor ihr stehen.
„Du siehst aus, als wärest du soeben aus einem Baum gefallen!“, meinte Plum, wobei sich seine Augenbrauen sorgenvoll zusammenzogen.
Peach betrachtete sie eingehend. „Was ist passiert?“
Enya rieb sich den schmerzenden Kopf. „Die Visionen tauchen immer häufiger auf.“
„Das ist nicht alles.“ Peach, die außergewöhnlich feinfühlig war, wie Enya zum wiederholten Male feststellte, hatte bemerkt, dass noch etwas anderes mit ihr nicht stimmte. „Was ist passiert?“, wiederholte sie.
„Aura ist tot.“ Der Satz kam nur qualvoll über ihre Lippen.
„Was?“ Plums Gefährtin schüttelte fassungslos und entgeistert den Kopf. „Oh, Entarna.“ Bestürzt sah sie ihren Gefährten an, dem ebenfalls das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben war.
Plötzlich schoss Enya ein Gedanke durch den Kopf. Noemi! Sie fragte sich, wie sie die Amsel bloß hatte vergessen können. Hat sie ihre Küken sicher hierher gebracht?
„Ich muss los“, sagte sie schnell zu den Wächtern der Gesetze.
„Warum denn?“, fragte Plum verwirrt.
„Das erkläre ich euch später.“ Mit diesen Worten kletterte sie ihren Baum hinauf, den sie von nun an allein bewohnen würde.