Kapitel 24

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

„Sie ist schrecklich“, meinte Aura, als sie sich auf den Weg zurück zur Lichtung machten.
Sie schauten zurück und beobachteten, wie sich der Palast in Luft auflöste.
„Amariter hat gelogen“, erklärte die Hüterin der Luft. „Sie konnte sehr wohl wissen, dass wir sie besuchen. In diesem Zimmer war ein Fenster, Enya. Sie hat uns bestimmt gesehen, und dann, wie beim Kakao, mit den Händen geschnippt, und das gemütlich eingerichtete Zimmer war da.“
Enya blickte auf ihre Füße. „Ich schätze, wir sollten einfach vorsichtig sein.“
Victoria ist nicht tot. Der Satz waberte durch ihre Gedanken wie Nebel.
Sie setzten sich wieder in Bewegung. Die violetten Blätter der Bäume zitterten im Wind. Ein leichter Nieselregen setzte ein.
„Auch das noch“, murmelte Enya.

Sie schaute auf, als heftiges Flügelschlagen ertönte. Unzählige Vögel stießen Alarmrufe aus, und Schwärme von ihnen flogen in den Himmel auf. Die Baumwipfel zitterten bei dem entstehenden Wind. Der Himmel war von unzähligen, sich bewegenden Tieren übersäht.
Plötzlich erfüllte ein Zischen die Luft. Das Vibrieren durschnitt die Luft wie winzig kleine Messer. Ist das ein Bienenschwarm?
Aura blieb wie angewurzelt stehen. „Das hört sich an wie…“
Enya drehte sich um und erstarrte. „Pfeile!“
Ein Schwarm von Geschossen kam von hinten auf sie zu.
Adrenalin schoss durch ihre Adern, als sie ihrer Freundin zubrüllte: „Lauf!“
Ihr Herz pochte wie wild, als sie losrannten. Mit der einen Hand schlug sie Zweige und Äste beiseite, mit der anderen Hand zog sie Aura an der Hand. Sie wurden schneller und schneller, und irgendwann fühlte sich Enya, als würden sie über den Waldboden fliegen.
Die Luft knisterte ihr im Nacken, und sie wusste, bald würden sie eingeholt werden.
Aura neben ihr keuchte, und auch Enya musste mühevoll Luft in ihre Lungen saugen.
Entarna, bitte lass das nicht unser Ende sein!
Ihre Beine wollten unter ihr nachgeben, doch sie zwang sich weiter zu rennen. Äste schlugen ihr ins Gesicht und hinterließen brennende Stellen, doch angesichts der drohenden Gefahr bemerkte sie es nicht.

Neben ihr stolperte Aura. Mit einem Ruck zog Enya sie weiter.
Weit, weit vor ihnen konnte sie schemenhaft die Lichtung ausmachen.
Obwohl sie wusste, dass sie sich die Luft sparen sollte, schrie sie: „Halte durch! Gleich sind wir da!“
Der Weg schien endlos zu sein, die Lichtung kam ihnen nur in erschreckender Langsamkeit näher.
„Ich… kann nicht mehr…“ Auras Keuchen wurde leiser, sie fiel zurück.
Eine Idee begann in Enyas Kopf Gestalt anzunehmen. „Wir lassen uns fallen“, rief sie. „Bei Drei, Aura!“
Sie waren bald da, die Hälfte der Strecke war zurückgelegt.
„Eins!“
Auras Hand löste sich von Enyas.
„Zwei!“
Enya rannte und ließ das Ziel nicht aus den Augen.
„Drei!“
Die Hüterin des Feuers fiel zu Boden. Ihre Knie schürften sich auf, doch das nahm sie kaum wahr. Die Pfeile schossen über sie hinweg.
Sie atmete erleichtert auf und wartete noch einige Sekunden, bis das Zischen verklungen war. Die Lichtung war noch etwa fünfzehn Meter entfernt, aber die Gefahr war vorüber. Sie war so froh, dass ihr zum Lachen zumute war.
„Aura?“
Keine Antwort. Wahrscheinlich war sie noch zu geschockt.
Enya setzte sich auf und sah sich um. Etwa einen Meter hinter ihr saß Aura, die sich das Bein rieb; Enya schaute nicht genau hin.
Erleichtert lief sie zu ihr.

Die Augen ihrer Freundin blickten leer auf den Boden. Das glückselige Gefühl verflog. Mit einem mulmigen Gefühl rüttelte Enya an ihren Schultern. „Alles in Ordnung?“
Ihre Hand streifte Auras Bein. Etwas Warmes floss an ihrer Hand hinunter. Die Luft roch nach Eisen. Es war Blut. Augenblicklich schien Enya das Herz stehen zu bleiben, und der Schock war zurück.
Langsam blickte sie an ihrer Freundin herunter. Der Hüterin des Feuers entwich ein lauter Schrei. In Auras Bein steckten zwei Pfeile. „Aura…“ Ihre Stimme versagte.
Die Hüterin der Luft stand halb auf, humpelte und fiel in der Nähe eines Baums, an den sie sich erschöpft lehnte. „Was für ein grässlicher Tag“, flüsterte sie. „Ich wusste es gleich, als ich heute Morgen aufgestanden bin.“
Enya versuchte, ihren Puls zu beruhigen und klar zu denken. Sie musste Hilfe holen. „Plum“, rief sie in den Wald, so laut sie konnte. „Plum, bitte komm, so schnell du kannst! Aura ist verletzt!“ Als keine Antwort kam, half sie Aura, sich etwas aufzurichten, und sammelte etwas weiches Laub zusammen. Verzweifelt drückte sie die Blätter vorsichtig an Auras Bein, zwischen die Pfeile. Sie wusste, dass es nichts brachte, und konnte nicht verhindern, dass ihre Bewegungen hektisch wurden.
„Drücke die Blätter an dein Bein“, bat sie. „Das wird die Blutung aufhalten… zumindest bis Plum da ist.“
Aura hielt Enyas Arme sachte fest. „Nein. Es ist gut so.“ Enya starrte Auras Hand an, sie war von blauen Adern überzogen.
Ein Vogel kam angeflogen und setzte sich auf den nächsten Ast über Aura. Enya sah genauer hin, es war ein Star. Er wiegte sich vor, beäugte die flach atmende Hüterin der Luft und zwitscherte: „Das sieht nicht gut aus, gar nicht gut. Da ist schwarze Magie im Spiel!“ Enya schossen plötzlich Tränen in die Augen. „Weg da!“, rief sie und fuchtelte mit den Armen, sodass der Star einen Warnruf ausstieß und eilig davonflatterte.
„Was ist passiert?“

Enya fuhr herum und erblickte Plum, der eilig zu Aura lief und genau ihr Bein begutachtete. Aura schaute auf Plums Fell, ihr Blick war leer.
„Amariter… wir sind zu ihr gegangen“, stammelte Enya, immer noch mit Tränen in den Augen. Sie wischte sie schnell weg, damit sie Aura nicht beunruhigte, die kurz zu ihr herübersah. „Sie hat uns einen Schwarm Pfeile hinterhergeschickt. Es war eine Falle. Und es ist alles meine Schuld.“
Plums Mund verzog sich zu einem geraden Strich. Seine Augen zogen sich sorgenvoll zusammen. „Enya, diese Pfeile sind vergiftet. Sie sind dazu gemacht, Drachen zu töten. Ich… ich kann nichts machen.“
„Dann lass mich wenigstens die Pfeile herausziehen!“, hörte sich Enya sagen. Ihre Stimme klang hysterisch, ihre Worte sinnlos.
„Nein.“ Aura lachte heiser. Plötzlich schien sie wieder klarer. „Es wäre das Schlimmste, das du tun könntest. Wusstest du das nicht? Ziehe niemals den Pfeil aus einer Wunde!“
Die Farbe entwich ihrem Gesicht, und sie wurde wieder ernst. „Es tut mir leid, dass ich Jordan beleidigt habe, an unserem ersten Tag in Dragosia. Sagst du ihm das?“
Enya hockte sich vor ihre Freundin. Ihre Augen brannten. „Das werde ich tun.“ Sie schluckte, als sie den Schmerz in Auras Augen sah. „Drago kennt sich aus mit Heilkünsten, er wird dich wieder auf die Beine bringen. Warte ein bisschen, ich kann ihn holen, jetzt gleich-“
„Das hat keinen Sinn, und das weißt du.“ Auras Stimme wurde sanft. „Bitte bleib hier.“
„Sag das nicht!“ Die Hüterin des Feuers würgte die Tränen hinunter, die aufzusteigen drohten.
„Enya, Drago kann auch nichts machen. Schwarze Magie ist unglaublich mächtig“, hörte sie Plums Stimme neben sich.
„Du bist eine gute Freundin, Enya. Ich bin froh, dass ich hierher durfte.“ Auras Stimme wurde leiser. „Es ist hier viel besser als in der Menschenwelt.“ Sie machte eine Pause. „Es tut mir auch leid, dass ich nichts getan habe, als Drago dich verbannt hat.“
„Es braucht dir nicht leidzutun.“ Enyas Stimme wurde flehentlich.
Auras Augenlider flatterten. „Manchmal habe ich mir gewünscht, dass ich mehr so wäre wie du.“ Sie hustete und fuhr leise fort: „Du musst deine Stärke nicht demonstrieren, man sieht sie dir an. Deshalb war ich am Anfang so gemein zu dir.“
Enya schüttelte den Kopf, sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Das, was gerade geschah, schien absurd, unmöglich, falsch. Enya fühlte sich wie in Trance, als befände sie sich in einem Albtraum, aus dem sie im nächsten Moment erwachen musste.
Die Hüterin der Luft versuchte, sich mit einem letzten Ruck aufzusetzen, und blickte ihrer Freundin ins Gesicht. „Glaubst du, es gibt noch Leben nach dem Tod?“, fragte sie hoffungsvoll.

Enya nickte heftig. Sie versuchte, zuversichtlich zu klingen, und setzte sich neben ihre Freundin. „Deine Mutter wird auf dich warten. Und Fidel wird dort sein.“ Sie wischte sich kurz möglichst unauffällig über ihr Gesicht, damit ihre Freundin die Tränen nicht sah. „Es wird wie in deinen schönsten Träumen sein.“
Aura holte rasselnd Atem.
„Und Entarna wird ebenfalls auf dich warten. An diesem Ort gibt es keine Leiden, keine Schmerzen. Nichts, was dich beunruhigen könnte.“
Die Hüterin der Luft blickte sie mit glasigen Augen an. „Du musst mir etwas versprechen, Enya. Nimm deine Bitte Entarnas zurück. Dass du sterben willst.“
Enya wechselte einen kurzen Blick mit Plum, der mit unendlich traurigen Augen neben ihr stand und nickte. „Ich verspreche es“, sagte sie, ohne eine Sekunde lang zu zögern.
Aura schloss die Augen, ihre Atemzüge wurden langsamer. „Kannst du mir eine Geschichte erzählen?“
Die Frage traf Enya völlig unvorbereitet.

Sie schaute in den Himmel. Die Sonne stieg auf, und der Himmel färbte sich blassblau. Orangefarbene Wolken zogen vorüber.
„Es war einmal eine Kriegerin.“ Sie sprach laut und deutlich, neben sich hörte sie das ruhiger werdende Luftholen ihrer Freundin. „Sie war furchtlos, tapfer und stark. Sie war dazu auserkoren worden, das Königreich Dragosias zu beschützen. Und das tat sie. Tag für Tag, Nacht für Nacht kämpfte sie an der Seite ihrer Freunde. Furchtlos und unerschrocken stellte sie sich der schlimmsten Zauberin, die es jemals auf der Welt gegeben hatte. Sie wurde entführt, doch büßte sie nichts von ihrem Tatendrang ein. Ihre Freunde befreiten sie, und so ging sie wieder ihrer Aufgabe nach, Gutes zu tun. Von allen Bewohnern Dragosias wurde sie verehrt und geachtet. Sie erlernte viele Kampftechniken, und stets setzte sie sie niemals für das Böse ein.“ Der Regen hörte auf, und Enya erblickte am Himmel das atemberaubendste Naturschauspiel, das sie je erblickt hatte. Ihre Stimme wurde fester. „Doch ihre Zeit in Dragosia war begrenzt. Und so kam der Tag ihres Todes. Es regnete, doch als die Sonne aufging, kam ein wundervoller Regenbogen zum Vorschein, der in allen erdenklichen Farben dieser Erde schimmerte. Niemals würde diese ehrenhafte Kriegerin Dragosias vergessen werden.“
Sie schaute zu ihrer Freundin. Ihre Augen waren geschlossen, sie lächelte. Enya wurde sich der Ruhe bewusst, die sie umgab, und erstarrte augenblicklich. Es war unnatürlich still, sie hörte nur noch ihren eigenen Atem. Der ihrer Freundin war für immer verstummt. Tränen lösten sich aus Enyas Augen, doch sie erzählte die Geschichte dennoch zu Ende.
„Niemals würde die Hüterin der Luft vergessen werden. Niemals würde Aura, die mutige Kriegerin Dragosias, vergessen werden.“
Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Bäume und schienen auf Auras Gesicht, bis es Enya schien, als würde es leuchten.
„Du warst die beste Freundin, die ich je gehabt habe.“ Ihre Wangen wurden nass von den Tränen.
„Und die einzige.“

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