Kapitel 23

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

„Meine Güte.“ Aura schlang die Jacke enger um ihren Körper. „Ein Glück, dass wir uns dickere Kleidung mitgenommen haben.“
Enya beobachtete das letzte Mal die Lichtung.
Während sie und Aura Amariter besuchten, würde Noemi ihr Nest in ihre Hütte verlegen. Die Vogelmutter war zwar ein wenig empört gewesen und konnte Enyas Entschluss nicht befürworten, allerdings wollte sie ihr die Entscheidung über ihre Taten nicht nehmen. „Du allein musst das für dich entscheiden“ hatte sie eingeräumt, wenn auch ziemlich besorgt. Spätestens am Morgen würden die Elementhüter allerdings zurück sein, davon hatte Enya die Amsel überzeugt.
„Na los.“ Die Hüterin des Feuers wandte sich dem Wald zu.
„Ihr Palast erscheint jedes Mal an einer anderen Stelle. Hätte uns Noemi nicht den jetzigen Standort gesagt, wäre das ziemliches Pech gewesen.“
Aura nickte: „Also los zum Bach.“
Sie liefen schnell und geduckt. Enya erinnerte sich noch genau an den Weg zur Todesstelle Fidels.
„Das muss bestimmt schrecklich für Noemi gewesen sein“, wisperte die Hüterin des Feuers. „Zuerst findet sie Fidels Grab, und dann erscheint auch noch Amariters Palast am anderen Ufer.“

„Was tust du eigentlich, wenn du dir absolut sicher bist, dass nichts Gutes mehr in ihr steckt?“
Enya spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht entwich. „Dann werde ich sie töten müssen. Ich habe den Schmerz in den Augen meines Vaters gesehen. Er kann sie einfach nicht töten. Ich weiß nicht, wie sie vorher war. Deshalb wird es für mich leichter sein.“
Den restlichen Weg schwiegen sie.
Dann, nach schier unendlicher Zeit, ragte der Palast vor ihnen auf.
Der Bach glitzerte, und Enya deutete mit dem Finger auf Fidels Grab.
„Dort ist es“, flüsterte sie.
Aura schaute betreten zu Boden.

Die Ruine spiegelte sich im Wasser. Der Wind fuhr durch die gähnenden Fenster und heulte, als er von ihnen verschluckt wurde.
„Wir müssen uns um den Bach schleichen“, wisperte Aura.
Sie zogen sich in den Schutz der Bäume zurück und liefen in den Schatten zum Palast.
Leise zwängten sie sich durch die Amariter darstellenden Büsche und liefen über die kahle, dunkle Wiese.
Enya gefror das Blut in ihren Adern, als sie zurückblickte und sich wie beim ersten Besuch die Finsternis vor ihr ausstreckte.
„Schau nach hinten“, wies sie ihre Freundin an.
Aura sah kurz nach hinten. Enya sah den erschrockenen Ausdruck in ihrem Gesicht und zog sie weiter, sodass sie kurze Zeit später wieder vor dem Zyklopen standen.
Ein hämisches Grinsen machte sich auf dem Gesicht der Kreatur breit. Das einzelne Auge blinzelte.
„Ich weiß, wer ihr seid“, meinte er höhnisch. „Und diesmal falle ich nicht auf euch herein.“
Aura funkelte ihn spöttisch an: „Dein Intelligenzquotient ist einfach ein bisschen… unterentwickelt. Du konntest nichts dafür.“
Enya stieß ihr den Ellbogen in den Arm, bevor sie das Fabelwesen weiter reizen und provozieren konnte.
„Kripala-anusch“, sagte sie unbeirrt das Codewort auf.
Der Zyklop knackte mit seinen Fingerknöcheln und verschränkte die Arme.
„Ihr habt keinen Zutritt“, knurrte er.

Die Hüterin der Luft blitzte ihn hinterlistig an: „Ach nein? Enya will ihre Mutter Amariter besuchen. Und wenn wir schon bei ihr sind…“ Sie machte eine Kunstpause. „Theoretisch könnten wir sie um eine Lohnerhöhung für dich bitten.“
Der Zyklop riss das einzelne Auge auf. „Nun ja… Die ist schon längst fällig.“
Aura lächelte genüsslich und zeigte auf den dreckigen Haarschopf der Bestie. „Schau dir doch deine Haare genauer an. Mit dem neugewonnenen Geld könntest du dringend zum Friseur gehen…“
Der Torwächter fuhr sich hektisch durch die fettigen, spärlichen Haare. „Tja, wo du Recht hast, hast du Recht…“
Enya nickte eifrig. „Ja, und wir könnten uns auch über deine Arbeitszeiten unterhalten. Ich meine, wie lange stehst du denn hier schon?“
„Den ganzen Tag. Ich habe nie frei. Noch nicht einmal zu Weihnachten.“ Er zog einen Schmollmund, und er tat der Hüterin des Feuers fast schon leid.
„Das kann doch wohl nicht wahr sein“, warf Aura in gespielter Verblüfftheit ein, „Noch nicht einmal zu Weihnachten? Daran müssen wir sofort etwas ändern!“
„Oh ja.“ Enya spähte am Zyklopen vorbei zum Eingang. „Am besten, wir gehen los. Jetzt gleich.“
„Moment!“ Der Mann blinzelte aufgewühlt mit seinem Auge. „Vielleicht wollt ihr mich ja wieder austricksen!“
„Ach was. Wir doch nicht!“ Aura versuchte, überzeugend zu klingen.
Der Zyklop schüttelte unsicher den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, dass ich das Risiko eingehen sollte…“
Die Hüterin der Luft seufzte ungeduldig auf. „Es gibt noch andere Lösungen, um diesen Konflikt zu lösen.“ Ehe es sich Enya versah, griff Aura nach ihrer Tasche, die sie wie immer bei sich trug, und schleuderte sie dem Fabelwesen auf den Kopf.
„Das war`s. Ein Problem weniger“, erklärte die Hüterin der Luft unbeeindruckt ihrer Freundin, die sie wie einen Außerirdischen anstarrte.
Enya fing sich wieder, griff in die Manteltasche des bewusstlosen Zyklopen, der am Gemäuer der Ruine zusammengesunken war, und nahm den Schlüssel heraus.
Eine Sekunde lang betrachtete sie interessiert die braune runzelige Zunge, die aus seinem Mund hing, und das gelbe, milchige Auge, das ins Nichts blickte. Die Zähne waren dunkel und verfault. Einige fehlten.

Die Hüterin des Feuers schüttelte sich angewidert und schloss die Tür auf.
„Was ist eigentlich alles in deiner Tasche?“, wollte sie wissen, als sie im schwach beleuchteten Korridor standen.
Aura öffnete sie grinsend. Enya lugte hinein und besah sich den Inhalt genauer.
„Warum denn die ganzen Steine?“, fragte sie verwundert.
In der Tasche befanden sich ungefähr zehn handgroße Felsbrocken.
„Es fühlt sich einfach sicherer an. Für solche Probleme wie gerade eben sind sie auch wirklich praktisch“, meinte sie schulterzuckend.
Enya lächelte. „Und der Button, den ich dir geschenkt habe, ist auch da!“
„Natürlich. Was hast du denn erwartet?“, entgegnete Aura und schloss die Tasche wieder.
Sie liefen weiter und öffneten verschiedene Türen. Bei der dritten wurden sie fündig.
Es war ein kleines Zimmer. In der Mitte der gegenüberliegenden Wand knisterte ein Kaminfeuer. Die Wände waren in beruhigenden Orangetönen angemalt. Vor dem Kamin lag ein brauner Teppich auf dem Boden, und darauf befanden sich drei Sessel. In dem mittleren saß Amariter.
„Wie schön, dass ihr gekommen seid“, sagte sie freundlich.
Enya und Aura wechselten einen verwunderten Blick.

Amariter trug einen flauschigen Bademantel und farblich passende Hausschuhe. Ihre Haare fielen locker und wellig auf ihre Schultern, und ihre Augen blickten sie herzlich an.
„Bist du dir sicher, dass wir hier bei der richtigen Adresse sind?“, flüsterte Aura.
Ihre Freundin schüttelte bloß die Schultern und starrte ihre Mutter an.
„Aber natürlich!“ Amariter lachte. „Ich weiß, ihr hattet mich anders in Erinnerung. Aber ich war damals einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden.“ Sie räusperte sich. „Das kann schon mal vorkommen.“
Aura hob eine Augenbraue. „Für mich sieht das so aus, als ob du dieses Zimmer und deine Kleidung hervorgezaubert hast, um Enya zu beweisen, was für eine gutherzige Person du bist.“
„Aber nein, wo denkst du hin!“ Amariter schüttelte den Kopf. „Wie hätte ich euren Besuch erahnen können?“
Bevor die Hüterin der Luft erneut den Mund aufmachen konnte, wies die Zauberin auf die Sessel.
„Na los, setzt euch“, forderte sie die Mädchen auf. „Wollt ihr eine Tasse Kakao?“ Sie schnippte mit den Fingern, und ein kleiner gedeckter Tisch erschien.
Enya nahm zögerlich das dampfende Getränk an sich und betrachtete ihre Mutter, die ihr zuzwinkerte.
„Wie gefällt es euch in Dragosia?“, wollte Amariter wissen. „Das muss euch alles bestimmt ziemlich seltsam erscheinen, stimmt’s?“
Die Hüterin des Feuers nickte langsam. Ihre Hand brannte etwas, und als sie heruntersah, merkte sie, dass sich am Henkel der Tasse ein schwarzer Brandfleck bildete. Ein unangenehm angebrannter Geruch machte sich breit.

Die Zauberin folgte ihrem Blick. „Oh, das ist nicht schlimm.“ Sie nahm die Tasse entgegen und pustete vorsichtig.
Kleine Eiskristalle formierten sich. Als sie schmolzen, war der Fleck am Henkel verschwunden.
„Deine Magie ist stark“, erklärte Amariter und gab ihrer Tochter die Tasse zurück, „und in meinem Palast wird die Magie gebündelt. Sie ist hier am stärksten.“
Enya rieb sich ihre Handfläche am Hosenbein ab, und sie hörte auf, Funken zu schlagen.
Aura trank ihre Tasse aus und richtete sich auf. „Der Kakao war nicht vergiftet, oder?“
„Nein, natürlich nicht! Wie kommst du denn darauf?“, entgegnete Amariter.
„Nun ja, bei dir kann man das nie so genau wissen“, gab die Hüterin der Luft zurück. „Eine Person, die unschuldige Mädchen entführt und harmlose Vögel tötet- wieso sollte sie nicht ihre eigene Tochter und deren Freundin vergiften?“

Die Zauberin fuhr sich mit der gezackten Zunge über die Lippen. Enya meinte, Wut in ihren Augen zu sehen.
„Was ist mit dir, Aura? An deinem ersten Tag in Dragosia verspottest du einen deiner zukünftigen Freunde, Jordan, als Streber. Und als Drago, dieser räudige Drache, Enya verbannt hat- was hast du da getan?“, fauchte Amariter. Sie schüttelte verächtlich ihre Haare aus. „Nichts!“
Enya blendete den Streit aus und konzentrierte sich auf die Zähne ihrer Mutter. Als diese zum nächsten Gegenargument den Mund aufriss, erhaschte die Hüterin des Feuers einen Blick auf ihre langen Eckzähne. Sie waren blutgetränkt. Fidels Blut.
Ärger ballte sich in Enyas Brust zusammen. Sie ist nicht mehr meine Mutter.
Ein leiser Zweifel nagte an ihrem Inneren. Wobei… ist Drago wirklich besser? Sie dachte an ihre Verbannung zurück. Dann drängte sich die Erinnerung in ihre Gedanken, wie Drago sie umarmt hatte.

Allmählich nahm sie Aura wieder wahr, die wahllos mit Beleidigungen um sich warf.
„Stopp!“ Enya unterbrach die Auseinandersetzung. Dann wandte sie sich an Amariter. Sie holte tief Luft und sagte ohne Umschweife: „Ich werde sterben. Ich habe Entarna darum gebeten.“
Die Zauberin riss die Augen auf, und für einen Augenblick veränderten sie ihre Farbe. Der grellen Röte, die die schwarze Düsternis umgab, wich ein volles… Was ist das für eine Farbe?
Enya fragte sich, ob es grün, blau oder grau war. Vermutlich eine Mischung aus allem.
Dann verschwand die wundervolle Farbe, und Enya versuchte zu ergründen, ob das die Augen von Victoria gewesen waren. Wenn ja, hatte sie diese seltsame Augenfarbe tatsächlich von ihr geerbt.
„Aber… wieso?“ Amariter blinzelte, als wäre sie aus einem Traum erwacht.
„Das würdest du nicht verstehen.“ Enya stand auf. Sie hatte nun die Gewissheit, dass in der Zauberin etwas von Victoria steckte. „Ich schätze, wir sollten langsam aufbrechen.“
Aura ging bereits zur Tür.
Die Hüterin des Feuers sah Amariter an. „Wir werden uns wiedersehen.“
Die Worte schienen in der Luft hängenzubleiben.
Die Zauberin machte einen Schritt auf Enya zu. „Pass auf dich auf, meine Süße.“ Ein seltsames Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Man weiß nie, was der Morgen einem bringt.“

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