Kapitel 22
Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis
Bevor sie das Baumhaus betrat, warf Enya einen letzten Blick auf die Lichtung.
Plum und Peach gingen in ihr Fliegenpilzhäuschen, um nach ihrem Sohn und den zwei Töchtern zu sehen. Nach dem Essen waren ihre Kinder so müde gewesen, dass sie noch nicht einmal am abschließenden Lagerfeuer teilnehmen konnten. Ihre Eltern hatten sie deshalb schon vor mehr als einer Stunde zu Bett gebracht.
Gloria, Guido und Viola kletterten den Nachbarbaum hoch, dessen Hütte Drago kurzerhand hervorgezaubert hatte. Lächelnd winkte Enya ihrer Cousine zu.
Drago schleppte sich müde in seine Höhle. Er hatte seiner Tochter bereits eine gute Nacht gewünscht.
Jordan kletterte allein seinen Baum hinauf.
„Enya?“ Auras Gesicht erschien im Türrahmen. „Bist du fertig?“
Die Hüterin des Feuers nickte und schlüpfte in die warme, gemütliche Hütte. Sie setzte sich in einen der Sitzsäcke und sagte zu Aura: „Du kannst dich ruhig zuerst fertig machen.“
„In Ordnung.“ Und damit verschwand sie im Bad.
Enya stand wieder auf und ging zu einem der Fenster.
Der wolkenlose Himmel war schwarz, nur der wieder zunehmende Mond und die vielen Sterne bildeten einen hellen Kontrast.
Sie sah zum anderen Baum hinüber, in dem das Licht ausging. Jordan war wahrscheinlich ziemlich müde.
„Vermisst du Neró?“
Bei der Stimme zuckte Enya zusammen. Sie spähte in die Dunkelheit, konnte jedoch niemanden erkennen. Wo ist sie?
Schuldgefühle rumorten in ihrem Bauch. Bitte lass es nur eine Wahnvorstellung sein!
„Ich bin hier oben. Auf dem Dach.“ Zögerlich lehnte sich die Hüterin des Feuers aus dem Fenster und sah nach oben.
Noemi saß auf einem bemoosten Ast und blickte sie unverwandt an.
„Es… es tut mir leid!“, platzte es aus ihr heraus. „Fidel… er ist tot …“
„Ich weiß.“ Trauer schwang in der Stimme der Amsel mit. „Ich habe sein Grab gefunden, am Teich. Hast du es gemacht?“
„Ja.“
„Es ist wundervoll. Bestimmt hätte es ihm gefallen. Weißt du…“ Noemi flog auf das Fensterbrett, und Enya trat einen Schritt zurück. „Er wollte immer so sterben. Ehrenvoll. Er wollte, dass sich jeder an ihn erinnert. Ihr seht euch ziemlich ähnlich, weißt du.“ Der Vogel blickte sie unverwandt an: „Ich wollte dich um einen Gefallen bitten. Du musst mir etwas versprechen.“
Die Luft schien still zu stehen.
„Bitte. Versprich mir, dass du dafür sorgst, dass sich jeder an ihn erinnern wird.“
„Ich verspreche es“, erwiderte Enya mit fester Stimme.
„Und noch etwas.“ Noemi legte den Kopf schief und betrachte ihre Freundin. „Versprich mir, dass du seinen Tod rächen wirst.“
Die Hüterin des Feuers zwang sich, ihre Stimme erneut unter Kontrolle zu halten. Und doch zögerte sie nicht. „Ich verspreche es.“
„Entarna gibt und nimmt Leben. Sie überlegt sich ihre Entscheidungen gut, so schrecklich sie auch scheinen mögen.“ Die Augen der Amsel glitzerten. „Denke stets daran, wenn dich die Hoffnung zu verlassen scheint.“ Dann räusperte sie sich. „Du hast meine erste Frage nicht beantwortet.“
„Naja… ich vermisse ihn wirklich ein bisschen.“ Enya wurde rot. „Geht es deinen Küken gut?“, fragte sie schnell, um das Thema zu wechseln.
„Oh ja.“
„Du könntest dein Nest hierher verlegen, wenn du willst… Bevor ihnen auch noch etwas zustößt…“
Noemi blinzelte. „Das wäre nicht schlecht. Seit Fidels Tod muss ich alle Aufgaben übernehmen. Ich bin öfter weg, um Nahrung zu besorgen-“
„Das können wir übernehmen“, fiel ihr Enya ins Wort.
Noemi neigte dankbar ihren Kopf.
Die Hüterin des Feuers schaute unsicher nach hinten, doch von Aura war noch keine Spur zu sehen.
Sie beugte sich vertraulich zu der Amsel und flüsterte: „Ich habe vor, heute Nacht zu Amariter zu gehen. Ich möchte mich vergewissern, dass sie wirklich durch und durch böse ist.“
Noemis Augen weiteten sich. „Sie hat Fidel umgebracht!“
„Ich weiß.“ Enya senkte ihre Stimme. „Aber sie ist meine Mutter.“
„Das kann ich gut nachvollziehen.“ Die Hüterin des Feuers drehte sich beim Klang der Stimme um und erblickte Aura.
Diese verschränkte die Arme vor der Brust und hob erwartungsvoll die Augenbrauen.
„Wann gehen wir los?“