Gloria strich ihrer Nichte über die Haare.
Enya umarmte sie und wollte sie nie wieder loslassen.
„Ich habe dich so vermisst…“ Enya erwischte sich dabei, dass sie fast Mama gesagt hätte.
„Du erdrückst mich ja!“, japste ihre Tante.
Die Hüterin des Feuers stieß einen Laut aus, und sie wusste selber nicht, ob es ein Schluchzen oder Lachen war. Sie blickte zu ihrer Adoptivmutter hoch und plötzlich fiel ihr auf, dass ihre Augen glänzten. Enya hatte sie noch nie weinen gesehen.
Endlich ließ sie los und betrachtete die anderen: Ihr Onkel und Viola waren da, und außerdem waren noch Plum und Peach anwesend. Hinter den Rücken der Fellbälle kicherte jemand.
„Wer ist da hinter euch?“, wollte sie von den beiden wissen.
Plum und Peach lächelten nur.
Plötzlich sprang sie etwas von hinten an.
Sie drehte sich erschrocken um und erblickte eine kleine braune Fellkugel. „Hallo! Ich heiße Apricot!“, stellte sich das Fabelwesen vor.
Ihre Kinnlade klappte herunter, und sie blickte zu Plum und Peach. Diese blinzelten sie ausdruckslos an, als wäre es das Normalste auf der Welt.
„Wir Wächter der Gesetze bekommen unsere Kinder, indem wir uns sie ganz fest bei Neumond wünschen“, erklärte Peach grinsend.
„Und wir haben uns bei der Namensgebung von dir inspirieren lassen“, fügte Plum hinzu. Er trat zur Seite, und zwei weitere kniehohe Fellbälle kamen zum Vorschein.
Er zeigte mit einem Fuß auf eine graue, violett-bläulich schimmernde Fellkugel: „Das ist Cherry.“
„Und das ist Nectarine“, ergänzte Peach und zeigte auf ein orangegelbes Fabelwesen.
„Apricot ist unser einziger Sohn, aber er macht sich zwischen den Damen ziemlich gut“, lobte Plum.
Daraufhin reckte Apricot stolz die Brust und quiekte zustimmend. Enya musste lachen.
Viola schaute sie grinsend an: „Du glaubst nicht, wie ich reagiert habe, als sie mir gesagt haben, dass es Dragosia wirklich gibt. Ich dachte damals wirklich, du wolltest mich auf den Arm nehmen!“ Sie schüttelte lachend den Kopf. „Und dann dieser Hunger auf Bananen!“
„Was?“, sagte Enya ungläubig. „Hunger auf Bananen? Aber du hasst Bananen.“
„Das ist eine Nebenwirkung von Gedächtnisverlust“, erklärte ihre Tante. „Du glaubst nicht, wie viele Bananen wir in der Woche gegessen haben. Viola hat sie sich sogar in die Schule mitgenommen.“ Sie fuhr ihrer Tochter durch die Haare.
„Was ist mit dem anderen Mädchen, eurer Ersatztochter? Ist sie hier?“, fragte Enya zögerlich und dachte angewidert an das Mädchen mit den kurzen schwarzen Haaren zurück.
Viola schüttelte entschieden den Kopf. „Sie war scheußlich, glaub es mir. Sie lebt jetzt bei einer anderen Familie, und hat eine Schwester namens Lena. Sie sollen sich anscheinend super verstehen.“ Sie verdrehte die Augen.
Enyas Onkel steckte sich die Hände in die Hosentaschen. „Aber am schlimmsten war es, als Gloria uns erklärte, dass du nicht mit mir verwandt bist.“
Seine Frau nickte; ihr Blick trübte sich etwas bei der Erinnerung. „Drago hat mir aufgetragen, es ihnen zu erklären.“
Enya blickte sich auf der Lichtung um. Ihr Blick fiel auf den Bau des Drachen.
„Kaum zu glauben, dass er mein Vater ist“, murmelte sie mehr zu sich selbst.
Gloria Bergkamm schaute unsicher zu Dragos Gemach. „Wir haben so ziemlich alles von eurer Unterhaltung mitgehört.“ Ihr Blick verhärtete sich. „Er begeht zwar ziemlich viele Fehler, aber in einer Sache hatte er Recht. Du musst Amariter töten, Enya.“
Die Hüterin des Feuers sah ihre Tante verwirrt an. Sie war es nicht gewohnt, ihre Familie über mystische Dinge reden zu hören. Noch überraschter war sie allerdings darüber, dass ihre Adoptivmutter tatsächlich für Drago Partie ergriff. „Ich habe gedacht, du wärest auf meiner Seite.“
„Hier gibt es keine Seiten. Amariter ist durch und durch böse. Es ist deine Bestimmung, sie zu töten. Sonst tötet sie weiter unschuldige Menschen und Tiere.“
Enya machte ihren Mund auf und wieder zu. „Aber sie ist deine Schwester! Wie kannst du das zulassen?“ Unglücklich betrachtete sie ihre Cousine. „Das wäre für mich so, als ob jemand Viola umbringen würde!“
Erschrocken wich Gloria Bergkamm zurück.
Die Wiedersehensfreude auf ihre Familie war Enya verflogen.
Sie wollte sich umdrehen und wegrennen, doch zwei Hände packten sie an der Schulter und zerrten sie zurück. Durch einen Schleier hilfloser Tränen erblickte sie die Gesichter, zu denen die Hände gehörten.
„Du wirst uns nicht mehr so schnell loswerden, Enya“, sagte Aura wie selbstverständlich.
„So sehr du es auch willst“, fügte Jordan hinzu.
Ohne nachzudenken, fiel sie ihren beiden Freunden um den Hals. Dann bemerkte sie stirnrunzelnd, wer fehlte. Sie richtete sich auf, trat einen Schritt zurück und wischte sich über ihr Gesicht.
„Wo ist Neró?“ Sie war über die Härte in ihrer Stimme überrascht.
Viola wechselte mit Gloria einen unsicheren Blick. Jordan und Aura blickten betreten zu Boden. Lediglich Plum und Peach sahen sie unverwandt an, während ihre Kinder sich quietschend über die Lichtung jagten.
„Dort, wo er hingehört“, erwiderte Peach. „In der Menschenwelt.“ Ihre Augen waren voller Mitgefühl.
Enyas Faust ballte sich zusammen. „Warum?“
Plum blinzelte. „Drago hat ihn weggeschickt. Er meinte, er hätte dir nicht gutgetan.“
Die Hüterin des Feuers wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Kopf drehte sich, als sie antwortete: „Ich hasse es. Immer wird mir alles genommen. Ich wünschte, ich hätte dieses verfluchte Land nie betreten. Ich wünschte, ich würde nicht auf diesem grässlichen Planeten leben.“ Ihre Stimme versagte, und sie bemerkte nur flüchtig die schockierten Gesichter ihrer Familie und Freunde. „Das ist kein Leben. Es ist die Hölle. Entarna hat mich nur hierher geschickt, um einen Auftrag auszuführen.“ Sie holte tief Luft, um ihre Stimme nicht beben zu lassen. „Den Auftrag, diesen Planeten zu retten. Ich werde es tun. Aber ich verlange eine Gegenleistung. Nach der Erfüllung der Prophezeiung möchte ich in Frieden ruhen. Und zwar nicht auf der Erde, sondern an einem Ort, an dem es keine Schmerzen und keine Leiden gibt.“
Die Sonne schien heller zu glühen, als Enyas Worte anerkannt wurden.
Gloria Bergkamm rannte verzweifelt zu ihrer Nichte. Ihre Augen glänzten nicht mehr, sie waren tränenüberströmt.
„Das darfst du nicht tun!“ Sie griff nach Enyas Händen. „Entarna hält ihre Versprechen!“
Aura blickte zwischen ihrer Freundin und Gloria hin und her. „Wovon sprecht ihr da?“, fragte sie unsicher. „Der Ort, an dem es keine Schmerzen und Leiden gibt?“
Schuppen schabten aneinander, als eine tiefe Stimme antwortete: „Es bedeutet den Tod.“
Ein kurzes Zischen einer Verwandlung ertönte, bevor ein sonnengebräunter Mann zu den Versammelten trat.
Seine platingrauen Augen suchten den Blick seiner Tochter. Er trat zu ihr, ging in die Knie und schloss sie in die Arme.
Enya keuchte verwundert auf. Was geht hier vor sich?
„Es tut mir so leid“, flüsterte Drago.
Er ließ sie für einen Moment los. „Ich bin schuld, wenn sich die Prophezeiung erfüllt.“
Eine Träne rollte ihre Wange herunter. „Ich dachte, du kannst mich nicht leiden“, flüsterte sie.
Die grauen Augen ihres Vaters leuchteten warm. Enya sah zum ersten Mal in ihrem Leben Emotionen anstelle der üblich abweisenden Kälte in seinen Augen.
„Es tut mir leid“, wiederholte er. Dann lächelte er traurig und seufzte. „Es ist eine Tragödie, dass ich meine Gefühle erst wiederfinde, sobald sich die Prophezeiung erfüllt.“
Seine Tochter blickte ihn fragend an: „Wann hast du sie denn verloren?“
Drago strich sich seine braunen Haare aus der Stirn. „Als ich versuchte, deine Mutter ins Leben zurückzurufen. Ich schätze, ein Teil von mir ist auch zu diesem grässlichen Biest geworden.“ Er blickte seine Tochter unverwandt an. „Es ist seltsam. Entarna hat die Erde aus Güte erschaffen. Und doch entsteht das Böse jeden Tag, an jedem beliebigem Ort dieser Erde. Es liegt an uns, sie zu besiegen. Doch das Böse wird seltener besiegt, als es entsteht.“ Er schüttelte den Kopf, eine ohnmächtige Geste.
Enya hatte ihrem Vater still zugehört. Ihr Gesicht hellte sich auf. „Das Böse ist also auch auf dich übergesprungen, oder? Was ist, wenn es bei Amariter genauso ist wie bei dir? Wenn sie weiß, dass ich sterbe, verwandelt sie sich vielleicht auch zu Victoria zurück!“ Hoffnung breitete sich wie ein warmes Glühen in ihr aus.
„Das wird nicht stattfinden.“ Drago schüttelte entschieden den Kopf. „Ich lasse dich nicht in ihre Nähe. Das wäre zu gefährlich. Ich persönlich werde sie umbringen. Ich kann nicht von dir erwarten, dass du deine eigene Mutter tötest!“
Plötzlich braute sich ein Plan in Enyas Kopf zusammen.
Ich werde allein gehen, entschied sie in Gedanken.
„Ich muss euch noch etwas sagen“, sagte sie, um das Thema zu wechseln. „Ich glaube, der Vesuv bricht aus.“
Viola fing an zu lachen, doch als niemand einstieg, verstummte sie. „Manchmal kann ich die ganze Geschichte immer noch nicht glauben“, bemerkte sie entschuldigend.
Drago wandte Enya sein besorgtes Gesicht zu. „Lass mich einmal sehen.“
Er legte ihr die Hand auf die Stirn und schloss die Augen.
Kalter Schweiß brach auf ihr aus, als es in ihrem Kopf heiß wurde.
Drago öffnete die Augen wieder und trat zurück. „Höchstens ein Monat.“
„Wie bitte?“, wollte Guido Bergkamm wissen.
„In höchstens einem Monat bricht der Vesuv aus“, wiederholte Drago geduldig.
„Ich bereite das Abendessen vor“, wandte Plum abrupt ein. „Es ist spät. Ich mache Yuxak-Tortschel, wenn niemand etwas dagegen einzuwenden hat.“
Niemand antwortete.
Pfeifend machte sich der Fellball auf den Weg, und Peach und ihre Kinder folgten ihm.
„Wir decken den Tisch“, meinte Gloria Bergkamm, und zusammen mit ihrem Mann und Viola, die sich verwunderte Blicke zuwarfen, gingen sie den Fabelwesen hinterher.
Nun waren Drago, Enya, Aura und Jordan allein.
„Muss ich den Vulkanausbruch verhindern?“, fragte die Hüterin des Feuers kleinlaut.
Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Du musst versuchen, den Ausbruch des Vesuvs so lange zu verzögern, wie nur möglich.“
„Damit sich die Menschen in Italien organisieren und die Gebiete evakuieren können?“, hakte Jordan nach. „Weil die Autobahnen absolut überfüllt sein werden?“
Drago nickte. „Ganz genau. Denn das Unheil an sich kann man nicht abwenden. Naturgewalten gehören zum Lauf der Dinge, sie sind Teil der Natur und beweisen dem Menschen, dass er noch nicht die vollständige Macht über unsere Welt innehat.“
„Können wir Enya einen Teil ihrer Last abnehmen?“, wollte Aura wissen.
„Ja. Jordan, du musst versuchen, das flüssige Gestein so lang wie möglich unter der Erde zu halten. Allerdings darf das nicht mehr als einige Tage andauern, da sonst der Druck zu hoch wird und die Stärke des herausgeschleuderten Magmas zunimmt. Und das würde wiederum Auras Aufgabe beeinträchtigen.“ Er nickte der Hüterin der Luft zu. „Du musst nämlich das Aufprallen der Gesteinsbrocken auf der Erde verzögern. Versuche, sie so lang wie möglich in der Luft zu halten. Auch die entstehende Aschewolke muss gebremst werden.“
Er wandte sich zu Enya: „Es tut mir leid, aber du musst von nun an Tag für Tag hart arbeiten.“ Seine Augen waren voller Mitgefühl. „Du bist die Kraft des Vulkans, du kannst ihn in kleinem Maße steuern. Versuche, seine Stärke zu verringern. Es wird schmerzhaft werden, aber du wirst es schaffen.“
Er rieb sich die Hände und blickte zu den drei Elementhütern. „Von nun an werden wir ununterbrochen trainieren.“