Kapitel 20

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

Drago hockte vor seiner Höhle und betrachtete den blauen Himmel. Ein Vogel flog in seine Richtung. Er streckte seine Glieder von sich und kratzte sich genüsslich am Rücken.
Seine blaugrauen Augen verzogen sich zu Schlitzen, als er den Vogel genauer betrachtete.
Nein, kein Vogel. Ein Drache.
Seine Augen weiteten sich. Was zum Teufel ist hier los?
Etwas Schweres, Kraftvolles rammte ihn mit voller Wucht. Es zischte und fauchte. Er fuhr seine Krallen aus, als er die seines Feindes über seine Schuppen fahren hörte.
Schnell setzte er sich auf und sah in die Augen eines weiblichen Drachen. Sie kamen ihm schmerzlich bekannt vor, aus einer längst vergangenen Zeit. Aber es war nicht die geliebte Person, an die er sich in dem Moment erinnerte. Nein, es war…
„Enya!“
Erschrocken wich er zurück.
Sie entblößte knurrend ihre Zähne.
„Du hast ihn umgebracht!“, klagte sie. Drohend klappte sie ihre Flügel auseinander. Mit einem Satz stieß sie ihn gegen einen Baum, bis sich alles um ihn drehte.
„Wen?“, murmelte Drago benommen.
„Fidel!“, schrie Enya ihm ins Gesicht. Mit einer Kraft, die er nie von ihr erwartet hätte, hielt sie ihn mit einer Klaue an seiner Kehle am Baum fest, bis er nach Luft röchelte.
„Ich habe ihn nicht umgebracht“, keuchte er. Er sah ihr ins Gesicht. Es sah dem seinen so ähnlich, dass er unwillkürlich nach Luft schnappte. Wieso fiel ihm die Ähnlichkeit erst jetzt auf? Er hatte schon immer gewusst, dass Enya und ihn etwas verband, das außer Plum und Amariter niemand in ganz Dragosia wusste. Doch er hatte es immer verdrängt. Stattdessen hatte er sie schikaniert, um seinen Schmerz zu verbannen. Er seufzte.
„Doch, das hast du! Wer soll es sonst gewesen sein?“
Sie lockerte ihren Griff etwas, und Drago atmete erleichtert auf, als er antwortete: „Amariter. Sie ist die Einzige, die ohne Grund mordet. Jedenfalls in Dragosia.“
Enya ließ ihn nun komplett los.
„Woher weiß ich, dass du nicht lügst?“, wollte sie argwöhnisch wissen.
Drago betastete vorsichtig seinen geschundenen Hals und erwiderte heiser: „Ich tue niemals Unrechtes.“
„Ach nein?“ Enya sah ihn unglücklich an. „Was ist mit meinen Eltern? Du hast ihre Erinnerungen an mich gelöscht und mich durch ein anderes Mädchen ersetzt. Du hast mich gestern von Aura, Neró und Jordan getrennt. Du verachtest die Menschen. Du..“
„Stopp!“, fiel ihr Drago ins Wort. „Ich musste das Gedächtnis deiner Eltern manipulieren, damit du dich voll und ganz auf deine Aufgabe konzentrieren kannst! Entarna selbst will, dass du es zu Ende bringst und die Prophezeiung erfüllst. Hättest du Heimweh nach deinem alten Zuhause gehabt, wärest du von deiner Aufgabe abgelenkt gewesen. Es war lediglich eine Sicherheitsmaßnahme. Und eine andere Adoptivtochter musste ich ihnen geben, damit-“
„Moment“, unterbrach ihn Enya perplex. Die Bemerkung traf sie wie ein Schlag in die Magengrube, und ihre Gedanken wirbelten durcheinander. „Eine andere Adoptivtochter? Was soll das heißen?“
Drago scharrte mit den Krallen in der Erde. Schließlich hob er an: „Enya, du hattest doch immer das Gefühl, dass du aus einer anderen Familie stammst, nicht wahr?“
Die Hüterin des Feuers schwieg erschrocken und blickte ihn kalt an. Die nächsten Worte waren kaum zu ertragen.
„Deine Eltern haben dich vor 13 Jahren an der Eingangstreppe ihrer Haustür gefunden. Sie hatten Mitleid mit dir und adoptierten dich. Deine Schwester wusste auch davon, und sie behandelte dich wie ein ganz normales Geschwister.“ Er seufzte resigniert. „Jemand hat dich ausgesetzt.“
Enya schluckte die Tränen hinunter, die hinaufzusteigen drohten und versuchte die vielen Gedanken in ihrem Kopf in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Mein ganzes Leben, das ich bisher geführt habe, soll eine einzige Lüge gewesen sein?
„Wer sollte so etwas tun?“, brachte sie schließlich hervor.
Drago blickte verstohlen in den Himmel. „Ich hasse die Menschen wegen ihrer Taten. Aber diesmal waren sie nicht schuld. Soviel kann ich dir sagen.“
Die Zeit schien stillzustehen, als sich eine Erinnerung in ihre Gedanken bahnte. Es war eine Emotion, ein kurzes Gefühl von Geborgenheit. Zwei graue Augen, die sie sorgenvoll anblickten, während sie weinte und schrie. Jemand, der sie in den Armen wiegte und ihr seltsame Schlaflieder einer fremden Sprache in die Ohren murmelte, bis sie einschlief, und der sie anschließend ablegte.
„Nein“, flüsterte Enya. „Es waren nicht die Menschen.“ Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals verschwinden zu lassen, doch es war vergebens.
DU warst es!“
Drago nickte.
„Das heißt…“ Sie konnte den Satz nicht vollenden. Er blieb ihr im Halse stecken.
„Ich bin dein Vater“, bestätigte Drago. Ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht.
Enya versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Der Drache, der da vor ihr stand, war ihr… Vater? Sie dachte an ihre bisherige Familie zurück, an den Mann, den sie stets für ihren Vater gehalten hatte, Guido Bergkamm, und daran, wie er ihr jeden Morgen schmunzelnd durch das Haar gefahren war. Sie erinnerte sich, wie er sie Tag für Tag von der Schule abholte, wie er ihr vor so langer Zeit die Kaugummis aus den Haaren geschnitten und dabei aufmunternd Witze gemacht hatte. Sie hätte sich keinen besseren Vater vorstellen können.
„Deshalb konnte ich mich so schnell in einen Drachen verwandeln! Weil ich zur Hälfte ein Drache bin“, bemerkte Enya überrascht. „Aber wieso hast du mich weggegeben?“, fragte sie kleinlaut und verbannte die Wut, die sich einen Weg durch ihre Gefühle suchte. Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen und schmeckte salzige Tränen. „Oder, noch wichtiger: Wer ist meine Mutter?“, ergänzte sie. Ihre Augen weiteten sich erschrocken. „Doch nicht Amariter?“
Drago seufzte. „Nicht ganz.“
„Wie, nicht ganz?“, hakte Enya forsch nach. „Entweder sie ist meine Mutter, oder nicht! Ich denke, es ist mein volles Recht, die Wahrheit zu erfahren.“
„Nun“, begann der Drache langsam, und es schien, als würde er innerlich mit sich ringen, „ich werde dir die Geschichte von Anfang an erzählen.“ Er machte eine Pause.
„Vor langer, langer Zeit lebte ich in Ruhe, Frieden und Güte gegenüber meinen Untertanen.“
„Das kenne ich doch alles schon“, blaffte die Hüterin des Feuers. „Du kannst deine Geschichte von mir aus vorspulen.“
„Natürlich, natürlich“, sagte er hastig. Dann fing er sich wieder und erzählte weiter: „Obwohl ich die Menschen abgrundtief hasse, verliebte ich mich eines Tages in eine junge Frau. Eine Menschenfrau. Ihr Name war Victoria.“
Er wartete die Reaktion seiner Tochter ab, doch sie starrte ihn lediglich unverwandt an.
„Nun ja. Sie war eine Dienerin Entarnas, das heißt, sie wurde aufgrund ihres Charakters von Entarna ausgewählt. Ihr würdet dazu, glaube ich, Priesterin sagen. Aber all das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich zeigte ihr also mein Königreich Dragosia, wobei sie es natürlich schon kannte.“
„Woher denn?“, wollte Enya wissen.
„Sie traf sich ab und zu mit anderen Dienerinnen Entarnas in Dragosia, um zum Beispiel Weissagungen entgegenzunehmen. Auch das verschwieg sie mir. Ich hatte ebenfalls meine Geheimnisse. Beispielsweise zeigte ich mich gegenüber Victoria nur in Gestalt eines Menschen und verheimlichte ihr meine wahre Gestalt. Tag für Tag trafen wir uns, das ging einige Jahre so weiter, und nach einigen Jahren erwartete sie schließlich ein Kind. Victoria erhielt eine tragische Weissagung über dieses Kind und erzählte mir alles, was sie mir bisher vorenthalten hatte.“
Er schlug die Augen nieder. „Ich war außer mir vor Wut und Trauer. Ich wollte nicht mein eigenes Kind lieb gewinnen, um es schließlich sterben zu sehen. Als die Menschen schließlich begannen, meine Untertanen zu töten, eskalierte die Situation. Victoria und ich begannen zu streiten, ich wurde wütend. Dann setzten die Wehen ein. Die rasende Wut schlug sofort in Reue um. Ich bat sie, ruhig zu bleiben, und versuchte sie zurückzuhalten. Doch sie machte sich los und verschwand im Wald, und ich blieb in meiner Reue zurück. Sie schaffte es, in dieser Nacht unser Kind zu gebären. Aber es hatte ihr zu viel Kraft gekostet…“ Seine Stimme brach, und er räusperte sich.
„Ich fand ihre Leiche am nächsten Morgen im Wald. Meine Tochter, die unglaublicherweise noch lebte, ließ ich aus Verzweiflung zurück, nur Victoria nahm ich mit. In den nächsten Tagen versuchte ich verbittert, sie mit dunkler Magie ins Leben zurückzuholen. Heraus kam dabei das Ungeheuer, das du heute kennst, und das sich fortan Amariter nannte. Ihren alten Namen, Victoria, hatte sie vergessen. Sie kann sich an unser gemeinsames Kind bis heute erinnern, aber sie ist geprägt von Rache und Wut und widmet sich den bösen Zauberkünsten. Auch auf mich ist die dunkle Magie etwas abgefärbt. Ich tue manchmal Dinge, an die ich in meinem wachen Zustand nie denken würde. Es ist wie ein Kurzschluss, oder wie man in eurer Welt sagt… ein Blackout.
Ich floh also vor Amariter und suchte, wieder bei Sinnen, nach meiner Tochter. Mittlerweile hatte Entarna sie „erstarrt“, damit sie nicht alterte oder über die Jahre an Hunger, Durst oder Krankheiten starb, falls ich sie nicht finden würde. Es war wie eine Art… Schutzhülle. Entarna hatte dies vermutlich getan, um Victoria für ihren Dienst zu danken, den sie all die Jahre vor ihrer Verwandlung zum Ungeheuer geleistet hatte.
Ich fand meine Tochter schließlich erst Jahrhunderte später, genauer gesagt… vor 13 Jahren.“
Enya riss angesichts der Erkenntnis die Augen auf. Sie spürte, wie sie eine Woge der Übelkeit übermannte. „Das heißt… Ich bin eure gemeinsame Tochter? Ich bin hunderte von Jahren alt?!“
Drago nickte geistesabwesend. „Ich fand dich am Ufer eines Sees, in den dich Wind und Wetter geschwemmt haben müssen. Vielleicht hat dich auch ein Tier dorthin gebracht, ich weiß es nicht. Aus der Notwendigkeit, dass ins Leben zu holen, wofür es bestimmt ist, zerstörte ich deine Schutzhülle und setzte dich nach einiger Überlegung in der Menschenwelt vor einer Haustür ab.“
Enya drehte sich der Kopf. Sie sah ihn mit einer Mischung aus Missachtung und Verwirrung an. „Aber… wieso hast du das getan?“
Er schüttelte schuldbewusst den Kopf. „Ich war überfordert und nach all den Jahren und Jahrhunderten noch immer bedrückt, dass ich die wahre Gestalt deiner Mutter in gewissem Sinne umgebracht hatte. Dass ich es hätte verhindern können. Und außerdem wollte ich, dass sich deine Prophezeiung nicht erfüllt. Dafür solltest du nicht mit Dragosia in Kontakt kommen… obwohl ich dich vor kurzem wieder herholen musste, da allein du die Bestimmung trägst, das Feuer zu hüten. Deine Adoptivmutter kannte ich bereits.“ Er lächelte traurig. „Sie war die Schwester der bezauberndsten Frau, die ich je gekannt habe.“
Enya schluckte. „Heißt das, sie ist meine Tante?“
„Ja.“
„Wusste sie das?“
„Ja.“ Er räusperte sich. „Wir haben es abgesprochen und geplant.“
„Wusste mein Adoptivvater davon? Dass du mein Vater bist? Dass du überhaupt existierst?“
„Nein.“
„Und was ist mit Viola?“
„Nein.“
Ihre Augenbrauen hoben sich fragend: „Aber sie werden es noch erfahren, oder?“ Sie zupfte am Kragen ihres T-Shirts. „Obwohl du ihr Gedächtnis gelöscht hast?“
Drago betrachtete sie unverwandt. „Ich habe ihnen ihr Gedächtnis wieder geschenkt, Enya. Jetzt verspürst du schließlich Rache an Amariter und es wird dir nicht mehr schwer fallen, sie umzubringen.“
Enya gefiel der Gedanke nicht, dass Drago von ihren Gefühlen bestens Bescheid wusste und anscheinend ihre Reaktionen vorausgeplant hatte. Werde ich mich je daran gewöhnen, dass er mein Vater ist?, fragte sie sich.
„Wie soll ich sie… ich meine, Mutter… umbringen?“, fragte sie stockend. Im selben Moment, in dem sie die Worte aussprach, realisierte sie, wie absurd sie sich anhörten. Ihr Vater trug ihr auf, ihre Mutter umzubringen. Genaugenommen hatte er sie zu einer seiner Spielfiguren gemacht und ihr eine Aufgabe übergetragen, die unmöglich schien.
„Sie war deine Mutter“, widersprach der Drache, und sie hörte das Unbehagen in seiner Stimme. „Deine richtige Mutter existiert nicht mehr.“
„Irgendetwas von ihrem alten Ich muss doch noch in ihr sein!“, widersprach sie barsch. „Es handelt sich um dieselbe Person!“
Drago sah ihr nicht in die Augen. „Nein, Enya. Deine Mutter ist tot. Nur ihr entstellter Körper ist übrig, mit einem anderen Geist, einem anderen Charakter, einer anderen Art zu denken. Du musst sie vernichten. Sie ist eine Hexe.“
Enya sog laut die Luft ein. „Wieso tust du es nicht einfach selbst?“, wollte sie wissen.
„Es war Teil unserer Abmachung, dass du sie vernichtest, weißt du nicht mehr? Sonst vernichte ich die Welt der Menschen.“
Enya konnte sowohl die fehlende Logik als auch die Kälte in den Augen ihres Vaters nicht ertragen. „Wieso bist du bloß so grausam?“
„Ich bin nicht grausam. Das musst du doch verstehen! Du weißt nicht, was die Menschen tun. Sie vernichten die Welt außerhalb von Dragosia. Sie drohen abertausende anderer Spezies, anderer Individuen, in den Tod zu reißen!“
„Aber das kann dir doch egal sein! Du hast doch dein tolles Dragosia, unter deiner herrlichen Führung, mit deinen fantastischen Untertanen!“, blaffte die Hüterin des Feuers. „Dir kann es doch egal sein, wie die Menschen ihre Welt behandeln!“
Der Drache fixierte sie aus Augenschlitzen. „Falls du es nicht bemerkt haben solltest: Dragosia befindet sich rein zufällig auf der Erde, genau wie die Welt der Menschen. Wir teilen uns diesen Planeten, Enya. Glaubst du, Entarna hat die Erde nur erschaffen, damit die Menschen sie zerstören? Wenn die Erde untergeht, dann geht auch Dragosia unter.“
Enya schüttelte entschieden den Kopf. „Die Erde wird nicht untergehen. Die Menschen sind intelligent. Sie werden es nicht so weit treiben.“
„Die Menschen sind intelligent“, äffte Drago nach. „Weißt du, wie lange sie gebraucht haben, um zu verstehen, dass die Erde keine Scheibe ist? Sie sind schlauer als Tiere, vielleicht sogar schlauer als ich, aber das macht sie nur gefährlicher. Sie kreieren Atombomben und führen Kriege, sie verpesten die Luft mit ihren Fabriken und Verkehrsmitteln, sie verschmutzen die Weltmeere, sie zerstören die Regenwälder, sie rotten die faszinierendsten Tiere und Pflanzen aus. Eine Gartenschnecke ist vielleicht bei weitem dümmer als ein Mensch, aber ich wette mit dir, dass sie weniger Sünden begeht und ein besseres Leben führt. Die Intelligenz spielt keine Rolle.“
Die Hüterin des Feuers wollte protestieren, aber Drago schnitt ihr das Wort ab: „Die Menschheit reißt die Erde auf nach der Suche nach Erdöl, sie lässt zu, dass ihretwegen eine Welt, ihre Welt, um ihrem Egoismus und ihrer Gier nach Reichtum gerecht zu werden, zu sterben beginnt. Sie ist wie ein Hund, der nach seinem eigenen Schwanz jagt. Irgendwann wird die Erde nicht mehr der blaue Planet sein. Sie wird ein brauner, unbedeutender, lebloser, in Vergessenheit geratener Klumpen inmitten des Universums sein.“
„Das ist nicht wahr. Du wirst sehen, dass du dich in den Menschen geirrt hast“, widersprach Enya abrupt.
Drago faltete seine Flügel auseinander. „Genau du bist diejenige, die mich bekehren soll. Wenn du es schaffst, Amariter umzubringen, bin ich davon überzeugt, dass in den Menschen noch Gutes steckt. Du bist zur Hälfte Mensch.“
Sie starrte ihn fassungslos an. „Und was ist, wenn sich die Prophezeiung erfüllt und ich beim Kampf gegen Amariter sterbe? Ist dir das dann egal? Ich bin doch deine Tochter!“ Die letzten Worte schrie sie, und es war ihr gleichgültig, wie das auf ihn wirken mochte.
„So weit wird es nicht kommen. Ich werde nicht zulassen, dass sich die Prophezeiung erfüllt.“
Enya peitschte wütend mit den Flügeln.
„Ich wollte dir etwas zeigen“, merkte Drago etwas freundlicher an.
Sie schlug zornig die Augen nieder und versuchte, ihre Wut zu verbergen.
„Folge mir.“ Mit diesen Worten erhob er sich in die Lüfte.
Seine Tochter schnaubte etwas, tat jedoch trotzdem wie geheißen.
Sobald sie sich über der Erde befand, versuchte sie sich etwas zu beruhigen. Der Wind pfiff ihr leise und beruhigend um die Ohren. Sie atmete die klare Luft ein. Gerade noch konnte sie die Gestalt ihres Vaters ausmachen, die ihr weit entfernt vorkam.
Wie kann er bloß so schnell sein?
Sie beschleunigte ihr Tempo und holte auf, als Drago unvermittelt in der Luft stehenblieb und sie mit Höchstgeschwindigkeit gegen ihn prallte.
„Pass doch auf!“, keifte er.
Sie verkniff sich eine bissige Antwort.
„Sieh dorthin“, befahl Drago und wies mit dem Kopf in Richtung Westen.
Enya kniff angestrengt die Augen zusammen.
In weiter Ferne fing die Menschenwelt an. Sie konnte es an den durchsichtigen, aber leicht flimmernden Mauern Dragosias erkennen, die schier unendlich hoch in den Himmel führten.
Bestimmt können die Menschen die Grenze nicht erkennen, weil sie nicht so starke Augen haben wie Drachen, überlegte sie.
Der Himmel in der Menschenwelt war von grauem Smog verhangen. Plötzlich hatte sie einen schlechten Geschmack im Mund.
„Was ist das?“, fragte sie und deutete mit dem Kinn darauf, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
„Die Menschen“, begann Drago unheilvoll, „versuchen so viel Strom zu erzeugen wie nur möglich. Was du da siehst, ist die Folge. Um Strom zu gewinnen, verbrennen sie Kohle. Außerdem spielen die Ausdünstungen ihrer Verkehrsmittel eine wichtige Rolle. Und jetzt bedenke, wie viel Regenwald zeitgleich verschwindet. Die Menschheit zerstört das Gleichgewicht. Und wenn sie damit nicht aufhören, wird die Welt, wie wir sie kennen, untergehen. Und nicht in Million von Jahren, sondern bald.“
„Aber wenn ich Amariter umbringe… wenn ich dir den Beweis gebe, dass du dich in den Menschen geirrt hast… dann wird die Welt doch in dieser Logik trotzdem allmählich beginnen, unterzugehen!“
„Oh nein. Du bist zu einer Hälfte ein Mensch, Enya. Und zur anderen Hälfte ein Drache. Du wirst zwischen den beiden Welten vermitteln. Du wirst die Erde retten.“ Ihr Vater begann ohne weiteren Kommentar und ohne eine Antwort abzuwarten, nach unten zu fliegen.
Die Hüterin des Feuers blieb fassungslos in der Luft zurück. Sie blickte ihrem Vater nach, der zu seinem Bau zurückflog und als winziger Punkt in der Ferne verschwand. Schnell wie der Wind holte sie ihn ein.
„Du bist wahnsinnig!“, rief sie. „Du verlangst von mir, dass ich die Erde rette, aber das ist eine Lüge! Ich muss Amariter nur töten, weil du es nicht über dich bringst!“
Drago landete vor seinem Bau und blickte seine Tochter stumm an. Er streckte eine seiner blitzenden Krallen aus, und Enya verwandelte sich zurück.
„So ist es doch, oder?“, fragte sie unsicher, als sie wieder in Gestalt eines Menschen auf zwei Beinen dastand.
Drago seufzte. „Wir waren unzertrennlich. Ich hätte alles für sie getan. Sie war ein Engel auf Erden. Wenn sie gelacht hat, war es so, als ob alles Graue dieser Welt dahinschmilzt. Wie soll ich sie da töten?“ Bei den letzten Worten brach seine Stimme.
Enya kämpfte mit den Tränen. „Sie ist meine Mutter. Ich kann sie nicht töten.“ Dann, lauter als beabsichtigt, fügte sie hinzu: „Du bist nicht mein Vater. Du bist ein Niemand. Ich hasse dich.“
Der Drache schnaubte. „Sieh dich lieber um, wen ich für dich hierher bestellt habe. Vielleicht verstehst du mich nicht immer, aber du täuscht dich in mir.“
Enya war sich nicht ganz sicher, aber sie meinte, glitzernde Tränen in seinen kalten, traurigen Augen zu sehen.
Er drehte sich um und verschwand in seiner Höhle, aber sie machte keinerlei Anstalten, ihm zu folgen.
Was meinte er mit ‚hierher bestellt‘?, fragte sie sich.
Hinter ihr hustete jemand, und langsam drehte sie sich um.

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