Kapitel 19

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

Enya träumte von einem jungen Mann und einer bildhübschen Frau mit braunen Haaren. Sie trafen sich nachts, und sie sah von oben, wie sie ein Lagerfeuer entfachten und eng umschlungen die züngelnden Flammen beobachteten.
Dann wachte sie auf.
Ein Wimmern hatte sie geweckt, das jedoch durch lautes Donnergrollen unterbrochen wurde.
Sie setzte sich vorsichtig auf. Ihr Kopf drehte sich etwas, aber ihr Zustand hatte sich eindeutig gebessert. Vor ihrem Bett machte sie Noemi aus. Sie wurde von Weinkrämpfen geschüttelt und zitterte am ganzen Körper. Neben ihr lag ein Nest, in dem zwei Küken tief und fest schliefen.
„Was ist denn passiert?“, fragte Enya erschrocken.
„Fidel…“, schluchzte Noemi. „Er ist nicht zurückgekehrt!“
Die Hüterin des Feuers stand auf und ging neben der kleinen Amsel in die Hocke.
„Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich unser Nest in deine Hütte getragen habe. Es hat so fürchterlich gewittert, und ich hatte Angst um meine Küken“, schniefte der Vogel und wischte sich mit dem rechten Flügel eine Träne aus dem Auge.
„Kein Problem“, sagte Enya und streichelte ihrer Freundin tröstend den Kopf. „Wir suchen morgen nach Fidel. Es ist bestimmt nichts passiert.“
Sie stand auf und wollte wieder ins Bett gehen, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wurde. Ihre Brust schien sich wie ein Presslufthammer zusammenzuziehen. Mit einem ruckartigen Schwindelanfall fiel sie rücklings nach hinten.
Sie machte die Augen auf und erspähte Lavaströme und heißes Gestein, das in die Luft geschleudert wurde.
Nach einem Blinzeln verschwand der Traum wieder.
„Enya!“ Noemi flatterte hektisch auf.
Schnell stand die Hüterin des Feuers auf.
„Mir war schwindlig“, erklärte sie und erläuterte geistesabwesend ihre Vision.
Dann bahnte sich eine Erinnerung in ihre Gedanken.
Was hatte Drago bei meiner Zeremonie gesagt?
„Wenn ihr ein Ziehen in eurer Brust spürt, dann wisst ihr, dass eine Katastrophe naht, die euer Element betrifft. Und falls kurze Zeit später auch Visionen auftreten, müsst ihr einschreiten. Ihr setzt dann eure gesamte Willensstärke ein, um das Unglück abzuwenden.“
„Was?“, fragte Noemi verwundert. Enya hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte.
„Das hat uns Drago bei unserer Zeremonie mit auf den Weg gegeben“, sagte sie müde.
Noemi schüttelte beunruhigt den Kopf. „Das ist nicht gut, gar nicht gut.“ Sie überlegte. „Lava, hast du gesagt?“
Enya nickte.
„Tja, dann kann es wohl nichts anderes sein als ein Vulkanausbruch.“
Enya nickte bestätigend. „Aber von welchem Vulkan sprechen wir hier eigentlich?“
Noemi sah ihre Freundin durchdringend an: „Beschreibe, wie der Hintergrund deiner Vision aussah!“
Die Hüterin des Feuers schloss die Augen und schilderte langsam: „Eine Stadt am Fuß des Vulkanes. Ein strahlend blauer Himmel, der sich dunkelgrau von der Asche verfärbte. Und der Vulkan… Er war kesselförmig, er schien mir irgendwie abgebrochen, als ob er schon einmal vor vielen Jahren ausgebrochen war…“
Sie öffnete die Augen und beschrieb mit der Hand eine Kurve in der Luft: „So sah er aus, kurz bevor er ausbrach. Der linke Teil war etwas höher gelegen als der Rest.“
Noemi wiegte unschlüssig den Kopf hin und her. „Damit kann ich nicht viel anfangen.“
„Ich zeige es dir. Gib mir deinen Fuß.“ Enya streckte entschlossen eine Hand aus. Der Vogel tat wie geheißen, und sie ging in die Hocke und ergriff die Gliedmaße ihrer Freundin. Angestrengt kniff die Hüterin des Feuers die Augen zu und versuchte, die Vision per Gedankenkraft zu übertragen. Schließlich ließ sie los, und Noemi trat zitternd einen Schritt zurück.
„Oh nein“, flüsterte Noemi.
„Was?“
„Der Vulkan. Ich weiß jetzt, welcher er ist. Ich war schon einmal mit Fidel dort. Flitterwochen.“
„Und?“
„Der Vesuv.“
„Oh, Mist!“ Enya stampfte mit dem Fuß auf. Ihre Augen brannten, als sie fragte: „Wie soll ich diese Katastrophe nur aufhalten? Es ist mein Element, aber ich schaffe das garantiert nicht!“
„Du wirst es schaffen, davon bin ich überzeugt. Normalerweise beherrscht nur Drago die Magie der Gedankenübertragung, aber du hast sie eben erst bewiesen. Manchmal glaube ich… nein, das kann nicht sein.“ Noemi flog zu ihren Küken und beugte sich über das Nest.
„Was glaubst du?“, wollte Enya wissen.
„Nichts. Wirklich.“
„Nein, ich will es wissen!“
„Schon gut, schon gut. Manchmal denke ich, du und Drago, ihr seid verwandt, aber das kann gar nicht sein. Er ist ein vollständiger Drache, und du bist- nun ja, ein Nachkomme eines Drachen. Kein reines Drachenblut, auch wenn dein Dragosia dem widerspricht.“
Enya schielte aus dem Fenster. „Besonders ähnlich sehe ich meinen Eltern und meiner Schwester nicht. Und Amariter meinte, sie wäre meine Mutter.“
Noemi schnaubte angewidert. „Alles Unfug, wenn du mich fragst.“
„Das hoffe ich doch“, sagte Enya und ballte ihre rechte Hand hinter ihrem Rücken zur Faust, bis die Knöchel weiß hervortraten.
Noemi holte zitternd Luft. „Wir sollten Fidel aber wirklich langsam suchen gehen!“, meinte sie mit weit aufgerissenen Augen.
Enya seufzte resigniert und ging zum Fenster. Das Gewitter war abgezogen, und die Sonne war am Aufgehen. Sie hielt sich den schmerzenden Kopf, als ihr Magen laut knurrte.
„In Ordnung, wir suchen uns etwas zu essen und sehen dabei nach Fidel. Einverstanden?“, schlug die Hüterin des Feuers vor.
Noemi sah noch einmal nach ihren Küken, die friedlich schliefen, und zusammen gingen sie hinaus.
Nach kurzer Zeit fand Enya einen Brombeerbusch. Sie pflückte sich so viele Beeren, wie sie konnte, und aß sie, ohne sie abzuwaschen. Derweil kämpfte Noemi mit einem Wurm, bis sie ihn endlich aus der Erde zerren und verzehren konnte. Danach teilten sie sich auf.
Enya ging zum Bach. Die Bäume des Waldes spiegelten sich im Wasser, und der Himmel war orangerot vom Sonnenaufgang. Das Gewässer lag still da, doch ein beängstigendes Knistern erfüllte die Luft.
Und da sah Enya ihren treuen Begleiter. Mit einer schrecklichen Gewissheit begriff sie, was vorgefallen war. Entsetzen ergriff ihre Glieder.
Er lag friedlich auf dem Rücken, direkt am Ufer. Die vom Blut verklebten Bissspuren an seinem Hals waren die einzigen Anzeichen an dem Mord. Die Flügel waren sorgfältig auf dem Bauch gefaltet und die Augen geschlossen.
Die Hüterin des Feuers hockte sich neben den leblosen Körper und hielt nach seiner Gefährtin Ausschau, die in die entgegengesetzte Richtung gegangen war.
Wie sollte sie Noemi bloß Fidels Tod erklären?
Sorgsam hob sie den winzigen Vogel auf. Tod sah er noch schmächtiger aus als sonst, klein und hilflos wie ein Kind. In ihrem Hals steckte ein fester Kloß. Eine Träne löste sich aus ihren brennenden Augen und fiel auf sein Federkleid. Behutsam streichelte sie sein Köpfchen und bettete ihn auf ihren Schoß.
„Es tut mir leid, Fidel.“
Die Worte klangen hohl in ihren Ohren.
„Bitte verzeih mir.“
Es war ihre Schuld. Er war allein ihretwegen losgeflogen.
Mit den Fingern fuhr sie die Bissstellen an seinem Hals nach. Der Mörder war nicht nach Fleisch aus gewesen, sondern nach Blut, sonst hätte er die Amsel aufgefressen. Die Zähne waren sicherlich spitz und erbarmungslos gewesen, sie hatten das Opfer sofort ergriffen. Enya versuchte sich die Szenerie vor ihrem inneren Auge vorzustellen und zwang sich, das letzte Mal ihren Freund zu betrachten.
Die Erinnerung an das lebhafte Wesen Fidels war noch so frisch, das sie tief durchatmen musste. Beim Ausatmen kam jedoch keine Luft heraus, sondern ein lautes Schluchzen.
Sanft streichelte sie seine weichen Federn. Der Vogel kam ihr vor wie ein ausgestopftes Tier. Unerträgliche Trauer suchte sich einen Weg in ihr Herz, in dem ein dunkles Loch zu klaffen schien.
Tot.
Das Wort geisterte in ihren Gedanken herum, bis sie sich den Kopf zwischen die Knie klemmen musste.
Schließlich stand sie auf und wanderte um den kleinen Bach herum. Gänseblümchen wuchsen in der Nähe des Wassers, und Enya war froh, eine heimische Pflanzenart zu sehen, die es auch in der Menschenwelt gab. Sie pflückte so viel von den Blumen, wie sie tragen konnte, und grub ein kleines Loch in die Erde. Dann wickelte sie ihren verstorbenen Freund in große, weiche Blätter, die sie von einem buschigen Strauch abgezupft hatte und die einen honigartigen Geruch verströmten.
Leise weinend legte sie ihn in das Loch, legte das letzte Mal ihre Hände auf den erkaltenden kleinen Körper. Dann schaufelte sie die Erde wieder oben herauf und betrachtete die in der Erde verschwindende Amsel, bis sie nicht mehr zu sehen war. Sie vollendete das Grab, in dem sie es mit den Gänseblümchen schmückte.
Danach hockte sie sich ans Ufer und betrachte das blaue Wasser.
Du wirst ihn nie wiedersehen. Noemi wird Witwe sein. Ihre Kinder werden Halbwaisen. Du allein bist schuld. Deinetwegen musste er sterben!
Sie presste die Hände an ihr Gesicht.
Mörderin.
Kopfschüttelnd blendete Enya die Stimmen in ihrem Kopf aus. Er war ihretwegen gestorben, das konnte sie niemals verleugnen, aber er würde die Tat, seiner Freundin zu helfen, nie bereuen.
Nein. Sie hatte ihn nicht umgebracht.
Aber wer war der wahre Mörder? Ein Tier oder jemand, den sie vielleicht sogar kannte?
Ein weiteres Mal dachte sie an die Bissspuren.
Und plötzlich kam ihr ein Verdacht, wer es gewesen sein könnte.
Drago hatte ihr schon so oft Unrecht getan.
Wieso sollte er dann nicht davor zurückschrecken, ihren besten Freund, einen für ihn „unbedeutenden“ Vogel, zu töten?
Wütend stand die Hüterin des Feuers auf.
Und dann rannte sie.
Sie rannte, bis sie den Graben vor Augen hatte, den Drago selbst erschaffen hatte.
Die rasende Wut machte es ihr leicht, sich in einen Drachen zu verwandeln. Die Schuppen breiteten sich wie züngelnde Feuerzungen auf ihrem Körper aus. Es war das erste Mal, dass sie sich bewusst in einen Drachen verwandelte, und dennoch nahm sie es kaum war. Sobald die Verwandlung vollendet war, erhob sie sich auf ihren starken Schwingen und fuhr im Flug die Krallen aus. Die Bäume unter ihr wurden klein wie Ameisen. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Sie war nicht sicher, ob es der Wind war, der ihr die Tränen in die Auge trieb, oder die Trauer. Ihr Wille brannte auf wie eine lodernde Stichflamme.
Ich werde deinen Tod rächen, Fidel.

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