Kapitel 18

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

Es war Nacht, und der Mond schien hell durch das Fenster. Es würde bald einen Sturm geben, das bemerkte der Hüter des Wassers gleich an den schweren, grauen Wolken und dem leichten Donnergrollen aus weiter Ferne.
Neró kletterte müde den Baumstamm hinauf, öffnete die Tür zu seinem Wohngemach und ließ sich in sein Bett fallen. Der Tag war wirklich anstrengend gewesen.
Nachdem sie Enya hinter sich gelassen hatten, hatten sie den ganzen Tag trainiert. Drago hatte ihn immer wieder aus schmalen Augenschlitzen betrachtet, ganz gleich, ob er sein Geschick bewies oder kläglich versagte. Neró hatte kein gutes Gefühl, so viel stand fest.
Trotz seiner Müdigkeit übermannte ihn nicht der Schlaf. Er musste immerzu an Enya denken. Sein Herz schlug schneller, als er sich an ihr Auseinandergehen erinnerte. Wut überkam ihn. Die Hüterin des Feuers war allem Anschein nach allmächtig. Warum also hatte sie nichts unternommen?
Doch ihn überkam auch die Angst. Wie sollte sie ohne Hilfe überleben?
Er schaute zu Jordans Bett, in dem der Junge tief und fest schlief. Er nahm sich an ihm ein Beispiel und zwang sich, ruhig zu bleiben und einzuschlafen.
Auf einmal näherten sich leise, kaum hörbare Schritte. Neró schreckte auf. Ein Schatten blieb vor seinem Bett stehen.
Das Licht ging an. Jordan nörgelte im Schlaf, wachte jedoch nicht auf.
„Neró, du kommst mit mir.“ Dragos Stimme war gefährlich ruhig.
Neró öffnete die leuchtend blauen Augen und fragte sich, wie die massige Gestalt des Drachen in das Baumhaus passen sollte, doch an der Bettkante stand ein sportlicher, sonnengebräunter Mann. Nur die kalten Augen verrieten, dass es dennoch Drago war.
„Schon gut.“ Neró wusste, dass es aussichtslos war, zu widersprechen, und mühte sich aus dem Bett.
Warum er sich wohl verwandelt hat?, fragte er sich in Gedanken.
Drago kletterte geschwind den Baum hinunter, und der Hüter des Wassers folgte ihm auf Schritt und Tritt.
Unten angekommen, blickte ihn der Mann mit verschränkten Armen argwöhnisch an. „Denkst du, dass du vielleicht Schuld an Enyas Verbannung trägst? Denkst du, sie hätte ohne deine Anwesenheit anders gehandelt?“
Neró legte den Kopf schief. Darum geht es also. Er schloss langsam die Augen und öffnete sie wieder.
„Ja und ja. Aber es war Enyas Entscheidung, und ich weiß nach deiner ernannten Strafe, sie wegzuschicken, ganz genau, worin der Unterschied zwischen euch beiden liegt.“
Dragos Augen weiteten sich überrascht: „Ach ja?“
„Mhm. Sie erscheint rebellisch, hat aber in Wirklichkeit Mut und Ehre. Bei Euch ist es genau umgekehrt. Ihr wollt, dass jeder vor Euch Respekt hat, aber den verdient Ihr nicht!“ Nerós Augen loderten auf. Ein Blitz erhellte den Himmel über ihren Köpfen.
Drago schmunzelte, als ob er all das für einen schlechten Witz halten würde, aber sein Blick schweifte ab.
„Du weißt, dass ich dich bestrafen muss, oder?“, fragte er den Jungen mit den schwarzen Haaren.
Neró betrachtete ihn verächtlich, ohne zu antworten.
„Hm“, machte Drago nachdenklich, „vielleicht sollte ich Enya zurückholen. Und dich dafür wegschicken. Schließlich bist du schuld, dass sie so irrsinnig gehandelt hat.“
Dann blitzten seine Augen verräterisch auf: „Tja, und damit du auf keine dummen Ideen kommst, werde ich deine Erinnerungen an Enya löschen. Das habe ich bei ihrer Familie auch getan.“
Nerós Augen flackerten in einem Anflug von Panik auf. „Oh nein, das könnt Ihr nicht machen. Das hat sie nicht verdient! Ihr dürft Enya nicht in diesem Ausmaß schaden-“
DU schadest Enya“, fuhr Drago dazwischen. Seine Augen hatten etwas Schwarzes an sich, das Neró nie zuvor bei ihm bemerkt hatte. Es erinnerte ihn an die Schwingen einer Krähe, dunkel und tückisch.
Ein weiterer Blitz erschien in der Dunkelheit, und es donnerte so laut, dass die Erde zu beben schien.
Ehe es sich der Hüter des Wassers versah, erblickte er das Gesicht des Mannes direkt vor seinem.
„Du bist zu weit gegangen, Junge.“
Neró wich einen Schritt zurück, und Drago packte ihn an den Schultern und zerrte ihn zurück.
„Nichtsdestotrotz werde ich dir eine Geschichte zeigen, eine Geschichte, die sich vor Jahrhunderten, nein Jahrtausenden abgespielt hat.“ Sein hämisches Grinsen verschwand. Seine Augen nahmen einen anderen Ausdruck an und glühten wieder wie Platin.
Neró packte die Angst, doch da erkannte er, dass der Ausdruck in Dragos Augen nichts anderes war als Trauer.
Der Mann reichte ihm die Hand, und Neró griff unsicher nach ihr.
Kurze Zeit später wurde er von Dragos Erinnerungen überwältigt.

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