„Alles in Ordnung, Enya?“, fiepte Fidel erschrocken. Seine schwarzen Augen weiteten sich, als er seine Freundin genauer betrachtete: „Meine Güte, was ist denn passiert?“
Die Hüterin des Feuers ließ sich auf den weichen Boden des Dragasischen Waldes fallen, eine Mischung aus Wimmern und Schreien ausstoßend.
Der winzige Vogel hüpfte besorgt um sie herum und schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Schließlich flatterte er auf und ließ sich auf ihrer Schulter nieder, schmiegte sich an ihren Hals und trocknete ihr damit die Tränen.
„Zeig mir, wo das Nest deiner Familie ist“, brachte Enya schließlich hervor.
Wortlos sprang die Amsel auf die Erde und trippelte voraus. Da Fidel ein Päckchen aus zusammengebundenen Blättern auf seinem Rücken hatte, nahm sie an, dass er das Futter für seine Küken ausgegraben und in das kleine Paket gewickelt hatte.
Die Hüterin des Feuers war wie gelähmt, hatte jegliches Zeitgefühl verloren und konnte nur noch nachdenken. Schweigend folgte sie dem Vogel.
Währenddessen dachte sie an ihre Familie, an ihre neuen Feinde, an ihr altes Leben und an Neró. Ihre Umwelt nahm sie dabei kaum wahr.
Nach anderthalb Stunden, die Enya vorkamen wie ein Wimpernschlag, hielten sie an der Brutstelle. Der Baum war schon alt, und die Borke war rissig. Sie fuhr mit dem Finger über die Rinde. Sie war angenehm weich. Dann schaute sie nach oben ins Blätterdach. Es war breit und bot ausreichend Schutz, die Blätter zitterten im Wind.
„Eine Zitterpappel“, flüsterte Enya. „Mein Lieblingsbaum.“
„Das Nest ist oben“, äußerte sich Fidel und flog auf einen Ast.
„Schatz?“, rief er anschließend, „bist du da? Wir haben Besuch!“
„Jaja, komme schon!“, zwitscherte eine hohe Stimme, und Sekunden später tauchte ein kleiner Kopf auf, gefolgt vom restlichen Körper, der sich durch die Blätter zwängte.
Enya betrachtete Fidels Gefährtin genauer. Das Amselweibchen hatte eine graubraune Farbe und tiefbraune, mitfühlende Augen mit leicht gelben Augenringen. Sie war sehr schlank, und ihre Brust zeigte weiß-hellbraune, deutliche Sprenkel, die sie bisher bei keiner anderen Amsel so detailliert und ausgeprägt gesehen hatte. Außerdem besaß sie sehr lange Beine.
„Wo warst du denn so lange?“, begrüßte die Amsel ihren Gefährten mit einer Mischung aus Vorwurf und Sorge. Sie fuhr ihm mit dem hellgelben Schnabel sachte durch das Gefieder, als sie Enya bemerkte.
„Ach, tut mir leid. Meine Manieren lassen zu wünschen übrig“, entschuldigte sich der Vogel, „ich heiße Noemi.“
Enya lächelte: „Ich heiße Enya.“
Noemi legte den Kopf schief, überlegte eine Weile und riss dann die Augen auf: „Die Enya? Die Elementhüterin aus der Prophezeiung? Die neue Herrin Dragosias?!“
Fidel nickte stolz.
„Moment, Moment“, mischte sich Enya ein, „die neue Herrin Dragosias?“
„Klar doch!“ Noemi wackelte so sehr mit dem Kopf, dass die Hüterin des Feuers Angst hatte, er würde abfallen. „Dein Dragosia, also deine Charakterstärke, ist sehr groß. Das haben auch die anderen Tiere bemerkt, wie du sicherlich weißt. Die Aufstände haben schon begonnen. Die zwei Parteien rüsten sich zum großen Krieg.“
„Welche zwei Parteien?“, hakte Enya mit einem mulmigen Gefühl nach.
„Dragos Partei und Amariters Partei natürlich“, antwortete Noemi sichtlich verwirrt.
„Ich stehe aber auf niemandes Seite. Weder auf der von Drago, noch auf der von Amariter“, stellte Enya klar.
Schnell und bitter erklärte sie, was Drago ihr angetan hatte.
Fidel und Noemi tauschten besorgte Blicke. Schließlich, nachdem Enya geendet hatte, meinte Fidel: „Dann gibt es also drei Parteien. Amariters Partei, die auf die Weltherrschaft aus ist, Dragos Partei – entschuldige mal, aber worauf ist die eigentlich bezogen?“
Enya sah hinauf in den Himmel, in die endlosen tiefblauen Weiten. Dann sah sie die beiden Vögel an und antwortete verbittert: „Auf die Vernichtung der Menschheit vermutlich. Ich habe in seinen Augen versagt. Also wird er wahrscheinlich die Grenzen Dragosias sprengen und die Welt der Menschen zerstören.“
Nervös begann Fidel, seine Zusammenfassung zu beenden: „Okay, also bleibt dann noch deine Partei übrig, die wiederum…“
„…ein friedliches Zusammenleben von Menschen und den Bewohnern Dragosias anstrebt. So, wie es Entarna will“, beendete Enya den Satz.
Noemi legte den Kopf schief. „Sieh dich an“, sagte sie, „du kamst als ein Nichts in Dragosia an, und jetzt bist du mächtiger, als es sich Drago vorstellen kann!“
Enya ignorierte den Kommentar und sah an der Zitterpappel hinauf: „Wenn es euch nichts ausmacht, werde ich mir hier ein Zuhause bauen, eine Notunterkunft oder so etwas in der Art für die Nacht.“
Fidel und Noemi nickten erfreut.
Und dann begannen sie mit der Arbeit.
Zuerst trug Enya Holz zusammen. Sie fand eine große, robust wirkende Astgabel und lehnte sie an den Pappelstamm, wobei sie ihn mit kleineren Ästen in ein Gebüsch am Fuße des Baumes flocht. Das Gleiche wiederholte sie auf der anderen Seite mit einer weiteren riesigen Astgabel. Dann holte sie etwas kürzere, dickere Äste und baute damit die Wände an. Dazwischen wob sie kleinere Äste ein, die Noemi ihr immerfort flatternd brachte, wenn sie sich nicht gerade um ihre Küken kümmerte. Fidel suchte nach Flechten und Lianen, die Enya dicht auf das entstehende Tipi legte. Mit feinen Ästen und getrocknetem Gras stopfte sie die letzten Löcher. Fidel besorgte ihr riesige, glatte Blätter einer dragasischen Pflanze, die gemäß des Lotus-Effekt das Wasser abperlen ließen. Denn laut Fidel und Noemi sah es ganz danach aus, als ob es in der Nacht regnen würde.
Aus weichem Laub und anderen Pflanzen und Ästen machte sie sich ein Bett in der nun fertigen Unterkunft und probierte es erschöpft aus.
„Und?“, fragte Fidel aufgeregt, „Wie ist es?“
„Das gemütlichste Bett, das ich je hatte“, antwortete Enya nicht ganz wahrheitsgemäß. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt und am Ende ihrer Kräfte. Ihre Muskeln brannten und ihre Augen tränten vor Müdigkeit. Ihre Arme und Beine waren mit Stichen von lästigen Mücken übersät, die höllisch juckten, und zeigten Schrammen und Striemen von der getanen Arbeit. Ihre Haare sahen noch schlimmer aus als sonst, vom Kopf in fettigen Haarsträhnen abstehend. Einige Haarbüschel hatte sie in Gebüschen und Hecken eingebüßt. Ihr Mund fühlte sich an wie ausgedorrt. Sie hatte seit dem heutigen Morgen nichts mehr getrunken und gegessen.
Sie wandte Fidel zu ihrer Rechten ihr geschundenes Gesicht zu. „Weißt du, wo es hier in der Nähe Wasser gibt?“, fragte sie.
Der Vogel flog sofort zu seiner Gefährtin ein Stockwerk hinauf. Wie sollte er ihr Wasser beschaffen? Er hatte die Notlage in den Augen seiner Freundin sofort bemerkt: Wenn die Hüterin des Feuers nicht Abhilfe bekam, würde sie vielleicht einen Kreislaufzusammenbruch erleiden. Die Arbeit hatte ihr schwerer zugesetzt, als er zuerst gedacht hatte. Die Tatsache, dass sie keine Pausen gemacht hatten, versetzte ihn in Schuldgefühle.
„Flieg zum kleinen Bach“, flüsterte Noemi besorgt und verbarg ihren Schnabel im Gefieder ihres Gefährten. „Und nimm ein Blatt mit, damit kannst du das Wasser transportieren. Pass auf dich auf.“
Fidel nickte erleichtert und flog los.
Am nächstgelegenen Baum pflückte er ein großes violettes Blatt und setzte seinen Weg geschwind fort. Dann sah er den kleinen, runden Bach. Und bemerkte den Schatten einer großen, hageren Person, die an dessen Ufer stand. Rote Augen blitzten in der Dunkelheit.
Und plötzlich, wie aus dem Nichts, verstand Fidel. Das Geschöpf ließ ihn nicht vorbei. Er musste sich zwischen Enyas und seinem Wohlergehen entscheiden.
Nervös ließ er sich auf einer Kopfweide nahe dem Ufer nieder. Sanfte Wellen umspülten die vom Wasser über Jahrhunderte rund geschliffenen Kieselsteine. Das Wasser war glasklar und vollkommen durchsichtig. Und trotzdem wirkte das gesamte Bild nicht ruhig oder entspannend. Der Kontrast zwischen dem leise plätschernden Bach und der eigenartigen Person an dessen Rande verschärfte die Situation nur.
Er entschied sich für Enya.
Er hob ab und flog in Richtung des Baches.
Die roten Augen kamen näher, etwas fauchte, und die Augen weiteten sich erschreckend riesig.
Ein Mund mit blitzweißen Zähnen öffnete sich.
Wenn Fidel sich nicht irrte, züngelte eine blutrote Zunge gefährlich.
Kurz bevor die Welt von tiefer Finsternis verschluckt wurde, musste sich Fidel an ein Sprichwort erinnern, das ihm sein Vater als Küken oft erzählt hatte, bevor er von einem Fuchs gefressen wurde.
Das Schicksal mischt die Eier, und wir brüten.
Und genau da wusste er, dass er das Richtige getan hatte.
Er hoffte nur, Noemi und seine Küken würden das verstehen.