„Ganz ruhig, Enya. Du schaffst es ganz bestimmt, in dieser seltsamen Wildnis in diesem seltsamen Land allein zu überleben“, sprach sich Enya Mut zu.
Wie als Antwort ertönte im selben Moment ein weit entfernter Schrei eines verängstigten Tieres, woraufhin sie zusammenzuckte.
„Leichter gesagt als getan“, seufzte sie resigniert, als sie ein aufgeregtes Zwitschern an ihrem Ohr vernahm. Als sie sich dem Geräusch zuwandte, erkannte sie Fidel wieder.
„Hallo! Schön, dich wiederzusehen. Ich habe meiner Frau schon alles über dich erzählt!“, erzählte der Vogel. Er flog einen Looping und landete sicher auf ihrer Schulter.
Auf einmal musste Enya lachen.
„Was denn?“, wollte Fidel sichtlich verwirrt wissen.
„Ich weiß noch, dass ich vor nicht allzu langer Zeit in der Welt der Menschen jeden Tag in die Schule ging, Hausaufgaben machte und mich immer langweilte. Und jetzt bin ich in einer Parallelwelt namens Dragosia gefangen und laufe mit einer Tarnhose, einem T-Shirt mit der Aufschrift Allein gegen alle, einem Vogel auf der einen Schulter und einem Bogen auf der anderen Schulter durch die Gegend!“
„Ach“, machte Fidel schulterzuckend, als ob es das Normalste auf der Welt wäre. „Das wird schon wieder.“
Enya schüttelte kläglich den Kopf: „Manchmal habe ich das Gefühl, ich wurde auf die Erde geschickt, um eine Mission zu erfüllen. Aber auf meine Gefühle, meine Absichten oder mein Schicksal wird nicht geachtet. Nur auf meine Taten. Wer weiß, was ich für ein Ende nehme.“
Fidel rieb seinen kleinen Kopf an ihren Haaren.
„Ich hoffe nur, dass ich etwas ändern werde, bevor es vorbei ist.“
Die Amsel sah sie seltsam von der Seite an. „Was meinst du mit vorbei?“, fragte Fidel verwundert.
„Nichts. Schon gut.“
Schweigend liefen sie weiter.
„Ich mag die Menschenwelt nicht“, gestand der Vogel schließlich. „Ich war schon ein paar Mal dort, aber es war verschmutzt und widerlich. Die Abgase brannten mir in den Augen, und der Gestank…“ Er schüttelte angewidert sein Gefieder.
Enya blieb stehen. „Du warst dort? Wie denn? Was ist mit der unsichtbaren Mauer?“
Fidel erklärte: „Durch das Tor kommen zwar nicht die Bewohner der Menschenwelt nach Dragosia, weil es durch Dragos Zauberkünste verschlossen ist, doch es öffnet sich den Bewohnern Dragosias, wenn sie die Menschenwelt besuchen wollen. Und selbstverständlich öffnet es sich den Elementhütern, nehme ich an. Es wandert wie Amariters Schloss von Ort zu Ort und ist nicht fest im Boden verankert.“
Enya nickte: „Als ich das erste Mal hier war und gerade aus der Menschenwelt kam, verschwand das Portal plötzlich.“
Dann runzelte sie die Stirn. „Ich würde zu gern wieder die Welt der Menschen besuchen.“
Die Amsel schreckte auf und plusterte die Federn auf: „Du willst zurück?!“
„Ich will nur nachdenken. Bitte, lass uns dorthin gehen.“
Seufzend willigte der Vogel ein: „Ich muss nur noch meine Küken füttern, wenn du erlaubst. Ich suche ihnen einige Leckerbissen zusammen, und dann brechen wir auf.“
Sie liefen im Wald umher, suchten nach Futter und vergruben es zum Schutz vor Feinden an einem mit Pilzen bewachsenen Baumstumpf unter der Erde, um es nach ihrem Ausflug wieder auszugraben und mitzunehmen. Nebenbei sprachen sie darüber, was ab ihrem ersten Treffen passiert war.
Enya erzählte überdies von ihrem alten Leben in der Menschenwelt. Und so gestaltete sich die Zeit als sehr interessant.
Nachdem sie sich bei den Tieren erkundigt hatten, wo sich das Portal befand, standen sie schließlich vor dem Tor. Abgesehen von dem fehlenden Müll (in der Menschenwelt schien er lediglich als Tarnung zu dienen) war es ein Abbild seines Zwillings in der Parallelwelt.
„Kommst du mit?“, fragte die Hüterin des Feuers ihren kleinen Begleiter nach einer kleinen Pause.
Fidel sprang von einem Bein auf das andere. „Ich glaube, ich warte lieber hier“, sagte er ängstlich.
Enya nickte zustimmend und tappte wortlos in den Tunnel. Sie lief zurück in ihre Heimat, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.
Diesmal blendete sie der Kontrast des Tageslichts zur Dunkelheit der Höhle nicht. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort. Dabei dachte sie nicht mehr an zuhause, sondern an Die Menschenwelt. Sie musste sich eingestehen, dass Dragosia ihr ans Herz gewachsen war.
Die Welt zu ihren Seiten flog unbewusst an ihr vorüber. Sie achtete nicht auf den Wald mit den grünen Blättern statt den violetten wie in Dragosia; sie achtete nicht auf Autos, als sie ohne sich umzusehen eine Straße überquerte und ein Autofahrer quietschend bremste und wütend hinter ihr herrief; sie achtete nicht auf die von Kirschbäumen gesäumten Straßen, die sie passierte und deren Asphalt mit zartrosa Blüten bedeckt war.
Schließlich war sie an ihrem ehemaligen Zuhause angekommen. Das orangefarben gestrichene Haus leuchtete im Sonnenlicht. Familie Bergkamm stand in sorgfältigen, verschnörkelten Buchstaben auf dem messingfarbigen Türschild.
Eine Welle des Bedauerns schlug plötzlich über ihr ein.
Warum musste ich bloß über diesen Zaun klettern? Warum musste ausgerechnet ich Dragosia finden?, fragte sie sich.
Dann beschlich sie ein mulmiges Gefühl: Und wenn das alles nur ein Traum war?
Nein. Das konnte nicht sein. Sie fegte den Gedanken beiseite und holte tief Luft.
Sie betrachtete noch eine Weile die Tür aus Mahagoni, dann klingelte sie entschieden.
Ihre Mutter öffnete. Sie lächelte fragend.
Auf der Stelle schmolz Enyas Wiedersehensfreude dahin. Ihr Lächeln gefror wie Schnee, der von der Sonne überrascht wird. Sie kannte diesen Blick nur zu gut. Doch sie wollte sich vergewissern.
„Guten Morgen“, sagte die Hüterin des Feuers langsam.
„Guten Morgen. Bist du hier neu eingezogen?“, erwiderte Gloria. „Ich habe dich hier noch nie gesehen.“
Enya öffnete den Mund. Doch es wich kein Laut heraus.
Ihre Mutter schaute sie etwas verwundert an. Als Enya nichts erwiderte, zog Gloria die Augenbrauen zusammen. „Hast du dich vielleicht an der Tür vertan?“, fragte sie unsicher, um ein Lächeln bemüht. Irritiert blickte sie auf Pfeil und Bogen, die der Hüterin des Feuers über die Schulter hingen.
Enya schüttelte den Kopf. Ein dicker Kloß saß ihr im Hals fest. Der Druck wurde unerträglich, und schließlich rann ihr eine Träne die Wange herunter. Sofort breitete sich ein erschrockener Ausdruck auf Glorias Gesicht aus.
„Suchst du vielleicht meine Tochter?“, wollte sie wissen. Als Enya nicht antwortete, rief sie lautstark in das Haus hinein: „Viola! Komm mal kurz nach unten!“
Enya schaute an ihrer Mutter vorbei in den Flur und erblickte ein ihr nur zu bekanntes Gesicht. Doch ihre Schwester betrachtete sie nur teilnahmslos und erkannte sie scheinbar auch nicht.
Es stimmt tatsächlich. Enya fiel es wie Schuppen von den Augen. Drago hat das Gedächtnis meiner Familie ausgelöscht! Wie konnte er mir das nur antun? Eine plötzliche Leere tat sich in ihr auf. Was war das bloß für ein Schicksal? Warum musste es ausgerechnet sie treffen?
Sie fixierte ihre Mutter, die sie nicht wiedererkannte. Und die sie nie mehr wiedererkennen würde.
Wenn ihre Mutter sie jetzt anschaute, lag keine Geborgenheit mehr darin, keine Fürsorge, keine Liebe. Sondern nur Verwunderung.
„Du kennst sie also auch nicht“, stellte Gloria mit einem Blick auf ihre Tochter fest.
Enya unterdrückte ein Schluchzen, machte auf dem Absatz kehrt und rannte weg.
Fort! Nur weg von hier!, fuhr es ihr durch den Kopf. Tränen rannen ihr Gesicht hinunter, tropften von ihrem Kinn auf den Boden. Sie spürte förmlich, wie ihr Herz zerriss und wie Feuerkohlen glühte.
Nun gehöre ich wirklich zu niemandem. Mir wurde alles genommen, was mir je etwas bedeutet hat.
Und dennoch verspürte sie nicht nur Trauer. Wut ließ die Tränen in ihren Augen brennen. Sie wollte Rache. Und diese Rache galt Amariter, die sich als ihre Mutter ausgab, und Drago, den sie fälschlicherweise als ihren Freund gehalten und der ihr altes Leben komplett ausgelöscht hatte. Sie hatte ein klares Ziel vor Augen.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich werde dich nicht enttäuschen, Entarna.