Der erste Schritt zu mir selbst

Wettbewerbsbeitrag von Eya Ben Rhaiem, 15 Jahre

Ich blieb kurz vor der Tür stehen. Ich wusste, dass ich klopfen musste, um es zu beenden. Es einfach beenden und dann gehen. Doch es fühlte sich so an, als hätte mein Körper etwas dagegen. Meine Hand wollte es einfach nicht tun. Der bekannte Geruch von Staub, Kaffee und Zigaretten stieg mir in die Nase und erinnerte mich an das erste Mal, als ich hier die Treppe hoch gerannt war, wie mein Herz gepocht hatte und wie ich dann gelächelt hatte, als wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.
Für einen Moment wollte ich wieder gehen. Einfach wieder die Treppe runter und es vergessen, so tun, als wäre alles wieder gut. Aber dann erinnerte ich mich an die letzten beiden Nächte, die ich durchgeweint hatte. Meine roten Augen, mein geschwollenes Gesicht und dieses Gefühl, das ich um alles in der Welt hasste. Dem ich seit langer Zeit versucht hatte aus dem Weg zu gehen und das mich jedes Mal einholte. Es war das Gefühl, mir selbst fremd zu sein. Die Erinnerungen an den gestrigen Tag kamen wieder hoch. Wie ich mir vor Verzweiflung die Haare rot färbte, ein erschreckender Prozess, wie ich mir danach vor Wut die Schere nahm. Es nahm kein gutes Ende, denn jetzt waren meine Haare ein Stückchen zu kurz. Letztendlich trank ich heute Morgen ein Stückchen zu viel, um hierhin zu kommen.
Ich wählte die buntesten Farben aus der Lidschattenpalette und malte sie auf mein Gesicht, nur weil ich wusste, dass er es hassen würde. Ich wusste nicht mal, ob ich es mochte, aber es war der erste Schritt zu mir selbst. Um mich selbst zu finden.

Endlich bewegte sich meine Hand. Ich klopfte. Eins, zwei, drei Mal und dann kam diese Stille, die eine Ewigkeit dauerte, bis sie von seiner Stimme unterbrochen wurde.
„Claire, bist du es?“
Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht wieder zu weinen.
Ich räusperte mich, jedoch kam nur ein kleinlautes „ja“ aus meinem Mund. Ich hörte, wie das Schloss sich drehte und dann stand er vor mir. Seine Hand an den Türrahmen gelehnt. Meine Theorie, dass er am Schlafen gewesen war, hatte sich bestätigt. Er war wie im Halbschlaf. Er bewegte seinen Arm und bat mich herein. Eigentlich wollte ich draußen bleiben, doch ein letztes Mal reingehen würde vielleicht nicht schaden. Er ließ mich im Wohnzimmer warten, um sich ein T-Shirt überzuziehen und sein Gesicht zu waschen. Alles sah wie immer aus, die graue Couch, auf der unsere Filmabende stattgefunden hatten, die Zigaretten auf dem Tisch und der schwarze Flügel, auf dem wir zusammen gespielten hatten. Als er zurückkam, verzog er das Gesicht, was er immer machte, wenn ihm etwas nicht gefiel.

„Eh, bist du dem Theaterclub doch beigetreten? Glaub mir das sind komische Leute, die genau das“, er hielte inne und zeigte auf mein geschminktes Gesicht, dann auf meine Schuhe „mit dir machen“.
„Nein“, antwortete ich. „Ich bin aber aus einem anderen Grund hier.“
Er kam auf mich zu.
„Naja, also so meinte ich das nicht“, er legte seine Arme auf meine Hüfte und schaute mir in die Augen.
Ich musste mich zusammenreißen, um das durchzuziehen. Am liebsten wäre ich ihm in die Arme gefallen.
„Aber was soll dann dein neues Aussehen?“

Mit aller Kraft stieß ich seine Hände weg und nahm einen Schritt nach hinten, dabei schrie ich „Hör endlich auf“ - so laut, dass er zurückwich.
„Hör endlich auf. Ich will das alles nicht mehr“, sagte ich, überraschenderweise war meine Stimme fest und laut. 
„Was ist mit dir los? Erst dein Outfit und deine Haare und jetzt das, hast du Stimmungsschwankungen oder so?“
„Nein, hier ist Schluss, ich will dich nicht mehr sehen!“
„Komm schon. Du weißt ganz genau, du bist nichts ohne mich“, sagte er und auch seine Stimme war klar und laut. Seine Worte taten weh, denn tatsächlich hatte ich lange nicht gewusst, wer ich wirklich war. Ohne ihn.
Ich schwieg zuerst. Dann kamen neue Worte aus mir heraus. Welche, die ich noch nie gesagt hatte:
„Hörst du dich eigentlich selbst? Du schiebst immer die Schuld auf andere. Am liebsten auf mich. Du wolltest nie eine Beziehung, du willst nur jemand, der nach deiner Pfeife tanzt.“
Ich hatte ihm bis jetzt nie widersprochen, doch das zu sagen, fühlte sich gut an. Ein weiterer Schritt zur Besserung, richtig? Sein Mund stand leicht offen, als wollte er etwas sagen. Stattdessen schwieg er nun.
Ich drehte mich langsam um und ließ ihn hinter mir. Fast wie in Zeitlupe. Ein Gefühl von Erleichterung und Stolz überwältigte mich. Alles was ich tun musste, hatte ich ganz alleine getan.
Ich hatte an die Tür geklopft, es beendet und jetzt muss ich nur noch gehen. Meine Schritte waren plötzlich so leicht.

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Autorin / Autor: Eya Ben Rhaiem, 15 Jahre