Entscheidungen

Wettbewerbsbeitrag von Lau, 23 Jahre

“Wenn du die Winterschuhe anziehst, bekommt deine Schwester Krebs.”
Ich stapfe bei Minusgraden durch den Neuschnee. Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern, Kinder tragen kleine Handschuhe. Ich nehme es wahr, aber es interessiert mich nicht. Meine Strümpfe werden nass, ich habe nur Turnschuhe an. Eis sickert an meiner Ferse entlang. Wie lang habe ich versucht, zu kämpfen? Versucht, meine Gedanken zu befriedigen? Allein mit der Last gelebt, die Verantwortung für alles und jeden zu tragen, unabhängig davon, wie unwahrscheinlich der Zusammenhang scheint? Manchmal frage ich mich, was es ändern würde, wenn die Menschen um mich herum in meinen Kopf sehen könnten. Würden sie es besser wissen, als mich zu Entscheidungen zu drängen? Besser wissen, als sich über mich lustig zu machen?

“Wenn du nicht bei Rot über die Straße gehst, stirbt deine Mutter beim Autofahren.”
“Hey!”, schreit der wütende Mann, als er in seinem rostigen Wagen in letzter Sekunde das Lenkrad herumreißt, um einer Achtzehnjährigen ihr kümmerliches Leben zu retten. Braunes Eis spritzt hoch, die Leute schauen schockiert unter ihren Kapuzen hervor. Die Fußgängerampel leuchtet rot in den Schnee. Ich sehe dem Wagen nicht hinterher.
Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert. Aber vielleicht wird es das letzte gewesen sein. Denn ich habe meine Entscheidung getroffen, und ich halte es kaum aus, meine Gedanken von ihr fernzuhalten. Ich stapfe weiter, die Schuhe nass, der Kopf voll, mein Magen schmerzt. Wenn man ist wie ich, dann ist jede eigene Entscheidung ein Kampf um Kontrolle. Ein Versuch, die Gedanken zu überreden, sich einem anzuschließen. Die Wahl bleibt, aber sie ist unendlich schwer.

“Wenn du nicht plötzlich abbremst, werden deine Großeltern morgen nicht mehr aufwachen.”
Wieder und wieder führe ich mir das Bild meines persönlichen Tiefpunkts vor Augen: Landstraße, Spätherbst, mein Kopf, der die Geschwindigkeit kontrolliert. Die Zahl auf dem Tacho wächst und wächst und fällt plötzlich, der Wagen hinter mir hat es nicht kommen sehen, die Straße ist nass, quietschende Reifen auf Asphalt, aber irgendwie bleibt es bei einem Schrecken und einem Lackschaden. Meine Eltern wollten glauben, dass es ein einmaliges Ereignis war. Ich dagegen weiß: Das alles muss ein Ende finden. Ich will niemanden verletzen, ich will niemandes Schicksal beeinflussen. Ich will einfach nur Frieden, und ich glaube, dass ich ihn nur noch so finden kann. Der Schnee knirscht, als ich schneller werde, damit meine Gedanken mich nicht überholen, mich nicht doch noch umkehren lassen.

“Wenn du jetzt umdrehst, kannst du deine beste Freundin gerade noch vor einer Vergewaltigung retten.”
Nein. Nein!
Kann ich nicht stattdessen über noch eine rote Ampel gehen? Ich versuche, einen Kompromiss zu finden. Manchmal funktioniert der Handel. Aber in mir breitet sich dieses widerliche Gefühl aus, dass eine rote Ampel heute nicht ausreicht. Und wenn ich bis zur nächsten Kreuzung renne, obwohl alle gucken? Ja. Ja, ja, es funktioniert! Das Gefühl wird leichter, die Angst neutralisiert sich; gegen jede Vernunft glaube ich zu wissen, dass ich sie so retten kann. Also renne ich, obwohl ich komisch angeschaut werde, obwohl der Schnee zwischen meine Zehen läuft und der Chihuahua hinter mir zu kläffen beginnt. Ich renne, bis ich schwer atmend die nächste Kreuzung erreiche, zufrieden und unzufrieden zugleich. Es hört einfach nie auf. Nach der Erleichterung kommt immer die Qual. Ein neuer Gedanke, ein neuer Impuls. Ich bleibe stehen und presse die brennenden Lider zusammen, schüttele den Kopf, um ihn zu leeren.
“Das ist doch irre”, haben meine Eltern gesagt, als ich meine Überlegung - die noch keine Entscheidung war - angedeutet habe. Nicht: “Wir lieben dich. Wir wollen, dass du lebendig bist.” Nur: „Irre“. Dann haben sie den Kopf geschüttelt und ausgeatmet und die Zeitung aufgeschlagen und ignoriert, dass ich im Raum stand. Jeden Tag versuche ich, sie zu retten, und sie versuchen, mich zu vergessen.
Niemand anderem habe ich mehr davon erzählt. Was sollte das auch bringen? Niemand außer mir selbst muss aushalten, dass die falsche Entscheidung die falschen Konsequenzen mit sich bringen könnte; dass allein die Möglichkeit eines Ereignisses eine Schuld bedeutet, die unerträglich ist. Und ich habe entschieden, dass ich nicht mehr kann.

“Wenn du laut deinen Namen sagst, wird dein Vater nicht krank.”
“Wie bitte?”, fragt die alte Dame, die mir verdutzt hinterher schaut, weil sie sich wohl angesprochen gefühlt hat. Ihre Nase ist rot wie ihre Ohren. Aufklären werde ich sie nicht - was soll ich ihr auch sagen? “Entschuldigung, meine Zwangsgedanken sagen, ich muss meinen Namen aussprechen. Das verstehen Sie sicher?”
Also laufe ich weiter und lasse sie zurück. Das Herz in meiner Brust rast übelkeitserregend bei dem, was mir bevorsteht. Immer war ich nahezu offensiv dagegen gewesen. Ich habe mich stark gefühlt, dagegen zu sein. Kontrolliert, “normal”. Besser als alle, die diesen Weg gegangen sind, weil sie zu schwach gewesen waren, wie ich fand. Es hat all die Jahre gebraucht, bis ich es verstand, weil mein eigenes Leben jede Grenze des Erträglichen erreicht hatte. Jetzt sehe ich zu denjenigen auf, die vor mir waren. Ich bewundere ihren Mut, weiß, dass es wahrscheinlich die schwerste Entscheidung und der beste Weg für sie gewesen ist. Ich will eine von ihnen sein. Und dennoch zweifle ich, je näher ich diesem selbst gewählten Ausweg komme. Ist er wirklich die Lösung? Haben meine Eltern nicht vielleicht recht? Werden sie enttäuscht sein, traurig, wütend?
Wieder bemühe ich mich, die Gedanken abzuschütteln. Ich bin so kurz davor, meinen Schritt zu gehen, und ich werde nicht umkehren. Nur noch ein paar Meter.
Fünfzehn.
Zehn.
Fünf.

“Wenn du diese Schwelle übertrittst, wirst du Höllenqualen leiden.”
Ich muss grinsen, eine unpassende Miene für eine unpassende Situation. Das hier sind Höllenqualen. Mein Leben sind Höllenqualen. Wenn ich diese Schwelle nicht übertrete, werde ich einfach weiter leiden.
Ich sehe auf meine triefenden Schuhe herunter. Jetzt zittere ich - ob von innen oder von außen, kann ich nicht sagen. Und doch setze ich den Fuß über die Schwelle des überdachten Hauseingangs und ziehe den zweiten hinterher.
Ich weiß, dass ich richtig bin, als ich das zweite Klingelschild von unten im Eingangsbereich des mehrstöckigen Ärztegebäudes lese.
Psychotherapeutische Ambulanz, steht darauf geschrieben.
“Wenn das die Leute wüssten”, haben meine Eltern gesagt.
Und: “So eine bist du nicht.”
Doch ich weiß es besser.
Ich bin so eine.
Ich bin eine, die Hilfe sucht, weil sie sie braucht. Weil sie endlich weiß, dass es nicht schlimm ist, danach zu fragen.
Ich bin eine, die für ihr Leben kämpft, obwohl es so sinnlos erscheint.
Also betätige ich die Klingel, ängstlich und mutig und stolz.
Ich bin eine, die Entscheidungen trifft.
Und diese eine Entscheidung ist meine.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.