Überflutung

Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung

„Konzentriere dich bitte, Fenja.“ – Nicht zum ersten Mal hörte ich diesen Satz aus dem Mund meiner Lehrerin. Tessa, meine Banknachbarin stieß mich mit ihrem Ellbogen an, aber ich hatte die Frage nicht gehört. Resigniert drehte sich unsere Lehrerin Frau Still um und stellte die Frage zur Entstehungszeit „Utopias“ jemand anderem. Dann klingelte es vor der Klassentür.
„Fenja, kannst du bitte mal vorkommen?“, hörte ich meine Deutschlehrerin. Ich ahnte, was kommen würde. Ich packte meine Tasche absichtlich langsam ein und bewegte mich lustlos vorwärts zum Lehrerpult, als meine Mitschüler den Klassenraum verlassen hatten, nicht ohne mich argwöhnisch anzuschauen.
„Was ist denn in letzter Zeit mit dir los? Wenn ich dir im Unterricht eine Frage stelle, kannst du nicht antworten, du wirkst immer so abwesend; dabei dachte ich, dass dich das Thema Utopien besonders interessiert. Also, was hast du?“
„Es ist nichts…“
„Sicher? Läuft zu Hause irgendetwas nicht? Ärgern dich deine Mitschüler?“
Das war es natürlich nicht. Glücklicherweise gehörte ich nicht in dieses Teenager-Klischee.
„Ich weiß ja selber nicht einmal, was ich habe. Ich habe ständig Kopfschmerzen und kann mich nicht mehr so konzentrieren wie früher. Schlafen kann ich auch nicht und meine Hände zucken.“
„Warst du schon einmal bei einem Arzt?“
„Nein, ich wollte demnächst gehen, aber ich hab nicht besonders viel Zeit und meine Mutter schafft es nie, mich hinzufahren.“
„Wenn du möchtest, kann ich dich jetzt hinfahren. Schließlich ist die Schule gerade vorbei und ich denke, ich weiß, welchen Arzt du benötigst.“

Ein Kopfnicken und eine halbe Stunde später saß ich im Auto von Frau Still. Es war ziemlich klapprig und roch nach Hundefutter. Der Stoff des Beifahrersitzes war steif, aber es war sauber. Wir zuckelten durch die Rush Hour. Wir sahen die uns so vertrauten riesigen Plakate glitzern und leuchten, wir sahen die Menschen- und Taximassen, die sich ihren Weg durch das Chaos bahnten, wir hörten das Hupen, Schritte, Schreie und Stimmen. Werbung blinkte von allen Seiten und der blaue Himmel war nicht mehr auszumachen.
Als die Stimme des Navigationssystems endlich verkündete, dass wir unser Ziel erreicht hätten, hielt Frau Still ruckartig vor einem merkwürdig tristen grauen Gebäude. Es gab nur sehr kleine Fenster. Die Tür sah beinahe antik aus, da war kein Glas, wie es normalerweise ist, und auch keine bunten Namensschilder, sondern ein schlichtes weißes Schild mit der schwarzen Aufschrift:


Prof. Dr. Eins
Facharzt für Medienerkrankungen


Ich war mehr als skeptisch. Dieser graue Block wirkte für mich eher wie eine Irrenanstalt als eine Arztpraxis und passte ganz und gar nicht in die schrille Umgebung. Doch Frau Still ging entschlossenen Schrittes durch die weiße Tür und so folgte ich ihr.

Wir befanden uns in einem riesigen Atrium, was atemberaubend schlicht war. Die Wände waren weiß getüncht, der Boden aus dunklem Parkett, und es gab keine Verzierungen oder Möbel außer eine Theke, die sich mitten im Raum befand und hinter der eine schmale kleine Frau stand. Wir gingen zur Rezeption und meldeten uns an. Dann wurden wir in den ebenfalls weißen Warteraum geschickt und setzten uns auf die grauen Klötze, die als Sitzmöglichkeit dienten.
Nach zehn Minuten wurde ich ungeduldig. In allen anderen Arztpraxen musste man noch nicht einmal fünf Minuten warten, bis man drankam, weil eigentlich immer alle im Stress waren. Außerdem musste man zur Zeitersparnis schon im Wartezimmer ein Formular ausfüllen, in dem man seine Symptome ankreuzen konnte. Die restliche Zeit vertrieb man sich dann mit Zeitschriften, die in normalen Wartezimmern auslagen.
Doch in diesem seltsamen Raum konnte ich weder einen Zeitschriftenständer noch eine Ablage mit Formularen finden. Langsam wurde ich wirklich misstrauisch. Was war das für eine sonderbare Arztpraxis? Wieso spielte keine Musik im Hintergrund? Und warum zum Teufel mussten wir so ewig warten, um endlich dranzukommen, wo wir doch die einzigen im Wartezimmer waren?

Als ich gerade überlegte, ob ich Frau Still zum Gehen überreden sollte, öffnete sich endlich die Tür zum Arztzimmer. Eine ziemlich große Schwester mit dünnem Haar steckte ihren Kopf heraus und nannte meinen Namen. Frau Still erhob sich auch von ihrem Sitz, winkte mir zu und sagte:„Ab hier bin ich überflüssig. Ich wünsche dir gute Besserung!“
Und dann verließ sie sofort das Wartezimmer, ohne mir auch nur eine Gelegenheit zu geben, sie zurückzurufen. Wie sollte ich denn jetzt nach Hause kommen? Das Geld für ein Taxi hatte ich nicht mehr.
Doch meine Überlegungen wurden jäh von dem Anblick der Person unterbrochen, die auf einem riesigen schwarzen Chefsessel hinter einem genauso riesigen Mahagoni-Schreibtisch saß. Das war also Prof. Dr. Eins? Ich sah einen schmächtigen, völlig farblosen und auf den ersten Blick als langweilig zu identifizierenden Mann mittleren Alters.
Dieser erhob sich von seinem Sessel, stakste auf mich zu, hielt mir seine kühle Hand hin und forderte mich mit einer schwachen und monotonen, fast schon hypnotisierenden Stimme auf, Platz zu nehmen.
„Dann erzählen Sie mir doch einmal, was Ihre Beschwerden sind.“

Ich weiß im Nachhinein nicht mehr, wieso ich diesem Mann, der mir doch so suspekt erschienen war, von allen meinen Symptomen erzählte. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass mich in diesem Raum nichts und niemand ablenken konnte. Ich weiß auch nicht mehr, wie lange es gedauert hat und was genau ich gesagt habe.
Meinen ganzen zusammenhangslosen Redeschwall lang sagte Dr. Eins nichts und nickte ab und zu nur mit seinem Kopf. Nachdem ich meine Erklärungen beendet hatte, schaute ich ihn erwartungsvoll an. Aber er schwieg. Ich weiß, das klingt jetzt seltsam, aber er sagte einfach nichts.

Nach gefühlten fünf Minuten fing Dr. Eins endlich an, zu sprechen.
„Sie sind möglicherweise hypästhetisch.“ Dieser platte Satz klatschte einfach so vor mir auf den blankpolierten Schreibtisch. Ich war etwas verdutzt.
„Und was soll das sein?“, fragte ich (ehrlichgesagt nicht ohne eine gewisse Skepsis).
Dr. Eins erklärte mir alles über diese mysteriöse Medienerkrankung mit dem Namen Hypästhesie. Er beschrieb die Symptome, die genau auf mich passten, und erzählte, dass ich nicht wie die anderen Menschen in meinem Umfeld die ganzen Reize der Werbung, der lauten Musik und der riesigen Stadt einfach ausblenden kann, sondern diese mit ihrer gesamten Wucht auf mich einstürzen. Mein Gehirn ist also schlicht und einfach überfordert von den ganzen Medien, die mich umgeben.
„Ich möchte aber, dass wir zur hundertprozentigen Sicherheit noch einen Test mit Ihnen machen.“

Dr. Eins drückte mir ein Formular in die Hand, das fast so aussah wie die Symptomformulare bei den anderen Ärzten. Er leitete mich in einen Raum mit einem Stuhl und einem Tisch, an den ich mich setzen sollte und die Fragen beantworten sollte.
Ich war ein wenig verwundert und verunsichert von den Fragen, vor allem, weil ich mich in diesem Raum fühlte wie bei den Wissensüberprüfungen in der Schule, bei der es nur richtig und falsch gibt. Die Fragen, die mir gestellt wurden, waren aber völlig abstrus und ohne jeglichen Zusammenhang. Ich wurde gefragt, was ich lieber mag, Zitronen- oder Erdbeereis, was meine Lieblingsuhrzeit ist und wie ich mein Kind nennen würde.
Was mich aber am meisten verunsichert hat, war, dass ich diese Fragen beim besten Willen nicht beantworten konnte. Mir erschien alles gleich. Es war, als ob mein freier Wille verschwunden wäre. Ich saß eine halbe Stunde über den Fragen und grübelte vor mich hin, bis Dr. Eins in den Raum trat und sich das Blatt anschaute.

„Dies ist der Beweis für Ihre Erkrankung. Jeder gesunde Mensch hätte dieses Formular innerhalb von fünf Minuten ausfüllen können, doch Ihr freier Wille hat sich durch den erhöhten Medienkonsum verflüchtigt. Wir müssen sofort handeln und sofort mit der Behandlung beginnen, sonst werden auch Ihre Erinnerungen irgendwann verschwinden und sie eine Marionette der Medien werden.“
Ich saugte diesen Berg an Informationen auf wie ein trockener Schwamm. Trotzdem fühlte ich mich noch immer unterfordert und unausgelastet. Aber ich wusste, dass Dr. Eins Recht hatte. Wenn ich wirklich krank war, brauchte ich eine Behandlung.

Nachdem wir uns wieder in das Sprechzimmer gesetzt hatten, erklärte mir Dr. Eins das weitere Vorgehen. Ich würde die nächsten zwei Wochen von sämtlichen überflüssigen Reizen befreit werden. Er nahm mich in seine Privatklinik auf und ich bekam ein weißes Bett in einem grauen Raum, nachdem meine Eltern informiert worden waren. Ab jetzt sollte ich jeden Tag zwei farblose Pillen schlucken und nicht nach draußen gehen. Als Beschäftigung auf meinem Zimmer gab es nur ein Bücherregal mit Klassikern und eine Musikanlage mit entspannender, ruhiger Musik. Nachdem diese Behandlungszeit abgeschlossen war, sollte ich mich langsam wieder an die Realität gewöhnen, aber lernen, die Reize nicht zu 100% auf mich wirken zu lassen.

Nachdem ich nun aufgeklärt worden war, wie die Behandlung abläuft, war ich wesentlich entspannter. Mir kam die Klinik inzwischen auch weniger gruselig vor. Ich freute mich sogar schon ein bisschen auf die kommende Zeit und war froh, dass es mir bald wieder besser gehen würde.
Erleichtert verließ ich das Sprechzimmer, mit der Versicherung in meinen Ohren, dass ich gesund werden würde.

Autorin / Autor: von Julia, 15 Jahre