Hoffnung in der Flasche

Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung

Es war vorbei, zu spät, sie hatte die Hoffnung aufgegeben. Ihre Finger berührten noch ein letztes Mal ihre Wange, sie fuhren über die vielen Risse und Narben, mit denen das Leben jeden Menschen zeichnete. Ihre Fingerkuppen liebkosten ein letztes Mal die kleine Kerbe an dem schon faltigen Kinn, die sie so geliebt hatte. Der sie so oft belustigt zugesehen hatte, wie sie sich auf- und abneigte, wenn ihre Mutter sprach. Sie ließ eine letzte Träne auf die Brust tropfen, an die sie sich geschmiegt hatte, wenn sie im Schlaf von schrecklichen Albträumen hochschreckte, die ihr das Gefühl von Geborgenheit und Liebe vermittelt hatte. Ein letzter Blick, dann wandte sie sich ab und verließ den Saal, um allein zu sein.

Als sie ihre kleine Wohnung in der Seymore Street betrat, die sie seit einiger Zeit bewohnte, überkam sie ein beklemmendes Gefühl, dieses Gefühl stand genau im Gegensatz zu jenem, welches sie diesen Morgen empfunden hatte, als sie sich auf den Weg machte, um ihre Mutter zu erlösen, um sich selbst zu erlösen. Sie hatte die ganze Nacht durchgearbeitet, und die Müdigkeit beschlich sie und pirschte sich von hinten an sie ran, um sie zu überfallen. Sie hatte nicht auf die Uhr gesehen als sie wieder aufstand, aber es musste spät sein, denn der Mond erstreckte sich schon am dunklen Himmel. Sie hatte Hunger, denn sie hatte seit dem Morgen nichts mehr zu sich genommen. Da erinnerte sie sich an den Berliner, den sie sich auf dem Weg ins Seniorenheim gekauft hatte, aber vor Aufregung nicht essen konnte. Sie musste ihn in ihre Tasche gesteckt haben, als „der fliegende Holländer“, so nannten alle die Busse mit denen man, seit der Mensch eingesehen hatte, dass Autos reine Belastung waren, überall hinkam. Die Busse machten ihrem Spitznamen alle Ehre, denn sie waren knallorange und flogen, durch die einfache Anwendung der Magnetphysik, wenige Zentimeter über dem Boden. Sie griff nach der Tasche, die sie auf dem Nachtisch liegen gelassen hatte und kramte darin nach dem Berliner. Da berührte ihre Hand das kleine Fläschchen, welches ihre ganzen Bemühungen der letzten 4 Jahre beinhaltete.

Sie hatte sich damals als Arzneimittelchemikerin selbständig gemacht, genau zu der Zeit, als ihre Mutter schwer erkrankte. Die Ärzte hatten zuerst vermutet, sie könnte eine einfache Leukämie haben, diese hätte man mit Medikamenten heilen können. Sie hatte einmal gelesen, dass Leukämie früher als unheilbar galt, aber darüber hatte sie nur lächeln müssen, denn in ihrer Zeit waren Leukämie und andere Krebsarten so leicht zu heilen wie ein schwacher Schnupfen. Doch es kam schlimmer: ihre Mutter hatte keine Leukämie, sondern Moribundus, eine erst kürzlich entdeckte Krankheit, die von atomar verseuchtem Wasser übertragen wurde. Sie wusste, dass es keine Hilfe mehr für ihre Mutter gab, und trotzdem wollte sie die Hoffnung nicht aufgeben. Sie konnte sich wirklich zu einer der Besten in ihrem Beruf zählen, und das war auch noch bescheiden ausgedrückt. So setzte sie sich in den Kopf, es müsse doch ein Heilmittel gegen atomare Verstrahlung geben. Und ihr Bemühen, eine Lösung zu finden, blieb nicht ohne Erfolg. Aber da ihre Fortschritte an ihrem Arbeitsplatz nicht anerkannt wurden und keiner sie zu unterstützen auch nur versuchte, beschloss sie zu kündigen und sich ganz ihrer großen Aufgabe hinzugeben, um ihre Mutter ins Glück zurück zu holen.

Sie zog sich immer mehr von der realen Welt zurück und tauchte ein in ihre Welt, in welcher sie die Mission hatte, ihre Mutter vor ihrem Unheil zu bewahren. Ihre ganze Hoffnung setzte sie in dieses Projekt, sie klammerte sich regelrecht an diesen winzigen Baumstumpf, der sie vor der nahenden Flut zu schützen schien. Doch war der Stamm sehr dünn und die Wurzeln waren faulig und morsch, und so gab dieser kleine Stumpf nur wenig Hoffnung. Sie gab aber nicht auf, und so hatte sie tags zuvor das Unmögliche möglich gemacht - doch es war zu spät. Sie hatte sich, sofort nachdem sie die Sicherheit über die heilende Wirkung durch einige Versuche an einer verseuchten Ratte erlangte, auf den Weg gemacht, um ihre Mutter endlich aus dem weißen Gefängnis, in dem sie von Wissenschaftlern festgehalten wurde, zu befreien. Sie hatte die Tatsache, dass die Uhr gerade erst 6 anzeigte, außer Acht gelassen und war aus dem Haus gegangen, um so schnell wie möglich das Krankenhaus zu erreichen, in dem ihre Mutter festgehalten wurde, wie die anderen verseuchten Menschen, die schon als Abfall des Lebens bezeichnet wurden. Sie eilte aus dem Haus und verständigte über ihren IPorter den „fliegenden Holländer- Service“ und gab ihm die genauen Koordinaten ihres Standorts an. Sie hasste es dort anzurufen, denn jedes Mal meldete sich diese Stimme, eine programmierte Stimme, die monoton immer die gleichen Worte vor sich hersagte. Diese Stimme ließ sie immer wieder erschaudern, denn sie war nicht nur absolut gefühllos, nein sie war viel mehr, sie war tot. Und der Tod war eins der Dinge, das die Menschen bis jetzt nicht bezwungen hatten. Auch jetzt noch waren sie ihm untergeordnet und restlos ausgeliefert. Doch so hoffte sie, würde sie heute, indem sie ihre Mutter dem Tod wegnahm, ihm auch ein Stück Macht wegnehmen.

Doch soweit sollte es nie kommen, denn der Tod hatte sich vorher ihrer Mutter angenommen und ihr damit das Liebste und Teuerste genommen, was sie noch besaß. Das war seine Antwort auf ihre Hoffnung. So wie ihre Hoffnung zu Grunde ging, zerbrach auch die Hoffnung späterer Generationen, die mit Moribundus und schlimmeren atomaren Verschmutzungen zu kämpfen hatten. Die Hoffnung zersplitterte wie das Glas der Flasche mit der Lösung, mit etwas Macht über den Tod. Es zerbarst wie ihr Herz, als sie die geliebte Mutter verlor. Es zerschlug wie der Traum von einer besseren Zukunft, und das alles nur, weil sie sich mit dem Tod angelegt hatte. Der Tod hatte gewonnen, er hatte alles in seiner Macht, nur eines erinnerte an die Hoffnung. An der Stelle, an welcher die Lösung und die Hoffnung in den Boden sickerte, hatte das Mittel den sonst so toten Boden geheilt, und eine einzige kleine lebendige Blume wuchs auf der sonst so toten Erde.

Autorin / Autor: Lena Spinger