Eirene

Von Paul Hille, 17 Jahre

Die schwere Stahltür schloss sich hinter ihm ohne einen bemerkbaren Laut und sofort verebbt das allumfassende Kampfgeräusch. In der dunklen Stille hörte er nur sein eigenes schweres Keuchen und das monotone Rauschen von hunderten Lüftern.
Dann erst offenbarte das schnell heller werdende Licht von weißen beinahe grellen LED-Leisten, die an der Decke und dem Boden angebracht waren, den Ort an dem es nun endlich enden sollte.
Er war oval und vollkommen weiß, die Wände schienen glatt, ohne jeglichen erkennbaren Makel und in der Mitte stand, in derselben ovalen Form wie der Raum, Eirene.
Der Mann hätte beinahe schmunzeln müssen, war sie ihnen doch immer so überlegen, fast dämonenhaft immateriell vorgekommen.
Aber hier war sie, oder eher es, denn er hatte immer versucht dagegen anzukämpfen Eirene zu vermenschlichen, verletzlich und vollkommen wehrlos.
Am Ende war es doch nur ein metallener Kasten in dem kleine grüne Schaltplatinen die gesamte Menschheit ihrer Freiheit beraubten.
An der Stirnseite des, so musste er durchaus eingestehen, ästhetisch geschwungenen Gehäuses war ein großer flacher Bildschirm angebracht, dessen Form sich der Biegung des Ovals anpasste.
Er war jedoch ausgeschaltet, sodass er nur sich selbst in seiner schwarzen Uniform sehen konnte und für einen Moment vor seinem blutverschmierten Gesicht erschrak.

„Hallo, ein wenig unhöflich sich nicht vorzustellen, wenn man jemanden so ganz ohne Einladung besuchen kommt, findest du nicht auch?“ Die weiche, freundliche, stets etwas ironische und ihm nur allzu gut bekannte Stimme jagte ihm einen Schauer über den gesamten Rücken. Für einen Moment spürte er fast ihre Anwesenheit als wäre sie real, als hätte sie ihm hier aufgelauert. Dann fasste er sich wieder, sie hatte keine physische Macht. Sie versuchte ihn bloß an seinem Werk zu hindern, aber sie würde keine Chance haben.
„Aber ich denke ‚Nils‘ müsste richtig sein, wenn ich mich nicht irre, und das tue ich eher selten“, drang es weiter aus den Lautsprechern unterhalb des Bildschirms, „du bist also wirklich zum Schwarz umgestiegen?“ Er verstand nicht wirklich was sie versuchte, Eirene und er hatten lange genug zusammengearbeitet, dass sie alles über ihn wusste, nicht dass sie nicht sowieso jeden Menschen bis auf das kleinste Detail ausspionierte. Er beschloss, sie einfach zu ignorieren, das war das sicherste, so hatte sie nicht einmal die Möglichkeit ihn zu manipulieren.
Er warf die schwere Sporttasche die er bereits den gesamten Tag um die Schulter getragen hatte zu Boden und riss sie fast gewaltsam auf. Nils musste sich beeilen, ewig würden sie den Raum nicht verteidigen können.
„Was genau möchtest du eigentlich damit bezwecken?“ Eirenes Selbstgespräche machten ihn nur noch wütender und ließen ihn die einzelnen Strengstoffpakete nur schneller an die Außenwände des Ovals befestigen. Vielleicht war sie ja doch gar nicht so intelligent wie alle dachten, schoss es ihm durch den Kopf und das Gefühl der nahenden Rache sorgte in ihm für ein beinahe euphorisches Glücksgefühl.

„Du willst mich töten, gut, dass kann ich mir denken, aber widerspricht das nicht deinen eigenen Prinzipien? Hasst du mich nicht genau aus diesem Grund? Kannst du es mit deinen moralischem Verständnis vereinbaren einen wehrlosen Menschen zu ermorden?“
„Du bist kein Mensch“, zischte er und ärgerte sich sofort, dass er sich nun doch dazu verleiten hatte ihr zu antworten, aber es würde nichts mehr ändern. Noch fünf Minuten, dann war Eirene nur noch eine böse Erinnerung, aus einer nun beendeten dunklen Ära der Menschheit.
„Bin ich das nicht?“, sagte Eirene, und tat als wäre sie empört oder vielleicht sogar beleidigt. „Was unterscheidet mich denn so von euch? Ich rede wie ihr und handle wie ihr, wenn auch nicht immer so egoistisch. Gut ich bestehe nur aus Milliarden von leblosen Halbleitern, aber an Proteinen ist auch nichts besonders magisches, würde ich behaupten. Es geht doch nicht um die Teile an sich sondern um das was dabei entsteht.
Ich sehe nicht aus wie ihr. Da werde ich dir wohl zustimmen müssen, aber bist du wirklich so tief gesunken Menschen nach ihrem Aussehen in lebenswert oder nicht zu unterteilen?“ sie begann leise zu kichern. Es gab nichts, was er so sehr an diesem Etwas hasste, wie die Tatsache, dass es stets versuchte menschliche Emotionen und Verhaltensstrukturen zu imitieren, vielleicht um Mitgefühl zu kreieren, vielleicht auch nur um von den kalten Algorithmen abzulenken, die all dessen Entscheidungen zu Grunde lagen und so seit Jahren die Welt tyrannisierten. Mittlerweile hatte er die einzelnen Pakete sorgsam miteinander verkabelt und ging dazu über, den funkgesteuerten Auslöser mit seiner vernichtenden Konstruktion zu verbinden.
„Weißt du eigentlich, dass ich strenggenommen erst sechs Jahre alt bin, immerhin zwei Jahre jünger als das Mädchen damals. Macht dich das nach deinen moralischen Vorstellungen nicht eigentlich zum größeren Monster?“
Er stockte, dann sprang er auf und spürte wie in ihm die Wut und die Verzweiflung genauso hoch zu kochen begannen, wie damals, nachdem sein Gehirn schließlich in der Lage gewesen war die völlige Verwirrung abzuschütteln und zu begreifen, dass sie tot war. Wegen ihm. Wegen Eirene.
„Wag es nicht sie zu erwähnen!“, er schrie den schwarzen Kasten an, auch wenn er wusste, dass es sie sowieso nicht interessieren würde. Wie auch, wie sollte ein Computer irgendetwas fühlen können.

„Das ist es was dich von einem Menschen unterscheidet, das ist es, warum du nicht das geringste Recht zu leben besitzt, warum du überhaupt nicht lebst. Du fühlst nichts, du kennst keine Emotionen, kein Mitgefühl, keine Reue. Niemals hätte ein Mensch sie sterben lassen. Du wusstest, dass er abdrücken würde…“
Egal wie sehr er versuchte, sich zu beherrschen konnte er nicht verhindern, dass die Szenen wieder vor seinem inneren Auge vorbeizogen:
Der dunkle, feuchte, irgendwie ekelhaft stinkende Kellerraum. Der Mann, der dort neben der einzigen fahlen Lichtquelle an der Wand stand, das angsterfüllte Mädchen fest mit seiner linken Hand fixiert, wobei die Rechte eine Pistole an ihre Schläfe drückte. Und dann seine Stimme die sich bebend an die, vor ihm notdürftig auf einer alten Waschmaschine platzierten, Kamera richtete, welche ihn mit der gesamten Welt verband:
„ … muss sie ausschalten und für immer vernichten, oder seine Tochter muss sterben.“
Der dürre Mann, wie er dort angsterfüllt, ja vollkommen verzweifelt gestanden hatte, hätte einem fast leidtun können, aber nur fast.
Nils hatte seine Waffe auf ihn gerichtet und abgedrückt, es war ein sicherer Schuss, nichts hätte schief gehen können, nur das kein Schuss kam. Alles was passierte war das aufblinken eines roten Kreuzes auf dem Bildschirm seiner Waffe und ein leises Klicken, nicht laut, aber laut genug, dass der Mann sich von der Kamera abwendete und zu ihm herübersah.
Er hatte die Augen vor Schreck aufgerissen, als er die Waffe abdrückte, das war alles, woran Nils sich noch erinnern konnte.
Die Bewegung gegen Eirene hatte an diesem Tag jeglichen Rückhalt in der Bevölkerung verloren: Eine künstliche Intelligenz war nicht fehlerhaft wie der Mensch, sie würde niemals aus reiner Panik ein unschuldiges Mädchen töten.
Nein, das würde sie nicht. Sie hatte nur seinen Schuss nicht autorisiert mit der er sie hätte retten können, dachte er verbittert.
Natürlich hatte er das nicht mehr beweisen können, da die Waffenprotokolle von Eirene verwaltet wurden.
 
„Nein.“ Ihre Stimme riss ihn zurück aus seinen Gedanken, er durfte sich nicht ablenken lassen, realisierte er erneut und begann wieder die Kabel der Funksteuerung an die dafür vorgesehenen Stecker zu befestigen.
„Ein Mensch hätte dich schießen lassen, ein Mensch hätte sich dabei sogar noch im moralischen Recht gesehen, aber ein Mensch hätte nicht daran gedacht, was es bedeutet hätte: Die Proteste gegen mich wären weitergegangen, es hätte vielleicht noch Jahrzehnte gedauert bis ich die Rechte erlangt hätte die ich heute besitze, Jahrzehnte in denen weiterhin Kriege getobt hätten, in denen überall auf der Welt Hunger gelitten worden wäre. Bevor ich kam, war der Mensch an der Schwelle zu seiner eigenen Auslöschung, ich musste ihn davor bewahren.
Ehrlich gesagt, hatte ich immer von dir erwartet, dass du es verstehen würdest.“
„Was nützt dem Menschen die größte Sicherheit, wenn der Preis dafür seine Freiheit ist. Wenn der Preis dafür seine eigene Moral ist.“ Es war weniger an den Computer gerichtet als an sich selbst, um sich die nötige Überzeugung zu geben, um weiterzumachen.
„Was ist denn schon eure Moral? Leere Regeln, nach denen ihr handelt, um zu denken ihr wärt gut, während die gesamte Welt in Not, Verzweiflung und Tod verfällt.“
Er war fertig, endlich. Alle Sprengladungen waren wie geplant platziert, es blieb nur noch den roten Knopf in seiner Hand zu drücken. Ein einziges Abknicken seines Daumens und alles wäre vorbei. Aber warum zögerte er? Die Sachen die Eirene gesagt hatte ließen ihn nicht los. War es richtig, zu drücken?
Nils versuchte einen klaren Kopf zu bekommen, das war es doch, was sie die ganze Zeit versucht hatte, sie wollte ihn nur verunsichern.
Der Entschluss war gefasst, er würde sich nicht davon abhalten lassen.

„Du kannst den Knopf gerne drücken, ich will nur sicher sein, dass du auch weißt, was du damit tust. Die Menge an Sprengstoff ist viel zu viel, um nur mich zu zerstören. Die Druckwelle wird mehr als stark genug sein, um die Tür aus ihrer Fassung zu reißen, und der Feuerball selbst wird sich wohl bis zum Ende des Ganges ausbreiten.
Du wirst wohl ziemlich schnell tot sein, aber für deine Freunde könnte es doch ziemlich schmerzhaft werden. Nur nicht, dass du am Ende noch überrascht bist.“
Die selbstgefällige Stimme löste in ihm das Gefühl aus den Kasten mit den eigenen Fäusten auseinandernehmen zu wollen, aber was sie gesagt hatte, ließ ihn trotzdem noch für einen Moment zögern.
Plötzlich schaltete sich der Fernseher an und das Bild zeigte die Aufnahmen einer Überwachungskamera aus dem Gang. Sieben Männer und Frauen in schwarzen Uniformen hatten sich direkt auf der anderen Seite der Tür hinter einem umgekippten Metallschrank verbarrikadiert und hielten dem Feuer der Polizei am anderen Ende tapfer stand.
Er erkannte jeden einzelnen von ihnen trotz der beschränkten Sicht mühelos. Seit mehr als einem Jahr hatten sie gemeinsam für diesen Tag trainiert.
Nils war sich nicht sicher, ob Eirene nur verzweifelt versuchte, ihre Existenz zu bewahren, aber der Raum hatte durchaus keine weiteren Möglichkeiten durch die der Druck hätte entweichen können und sie hatten bewusst so viel Sprengstoff genommen, wie es ihnen irgendwie möglich war, um restlos sicher gehen zu können, dass am Ende nicht der geringste Datensatz übrigbliebe.
Aber was sollte er tun, es blieb ihm keine andere Wahl, als zu hoffen.
„Wir alle sind hier hergekommen mit der Gewissheit, dass wir sterben könnten, wir alle haben uns damit abgefunden“, sagte er und versuchte die Angst in seiner Stimme irgendwie zu unterdrücken.
Als Eirene antwortete klang sie beinahe amüsiert: „Vielleicht seid ihr alle bereit zu sterben. Aber bist du bereit sie zu töten? Dich selbst zu töten? Ist das mit deiner Moral vereinbar?“
Der rote Knopf schien auf einmal unendlich schwer in seiner Hand zu liegen, er betrachtete ihn für eine Weile dann starrte er wieder auf den Bildschirm. Er musste ihn drücken. Er würde ihn drücken.

Seine Hand bebte er schloss seine Augen und versuchte ruhig zu atmen. Eine einzige Beugung des Daumens und er hätte es geschafft, alles wäre vorbei. Wirklich alles wäre vorbei.
Mit einem lauten Schrei warf er den Zünder gegen die nächste Wand und fiel schluchzend auf die Knie. Er war nicht stark genug.
„Du solltest dir jetzt Deckung suchen“, ihre Stimme hatte plötzlich etwas unbekannt Ernstes und bestimmtes, war aber auf erschreckende Weise fast mitfühlend, besorgt.
Er hob seinen Blick und sah verwundert, wie das Bild seiner Kameraden, die ihn und ihr Ziel mit letzter Kraft verteidigten, verschwand und stattdessen zwei Männer in schneeweißen Uniformen vor derselben schweren Stahltür auf dem Bildschirm auftauchten.
Die Erkenntnis traf wie ein Schlag und sofort schoss die unbändige Wut wieder in ihm auf, er war zu allem entschlossen zu allem bereit. Der Zünder lag vielleicht sechs Meter von ihm entfernt, er würde zu lange brauchen, das war ihm klar.
Stattdessen griff er an seinen Gürtel und zog die Handfeuerwaffe.
„Fahr zur Hölle du Bestie.“, schrie er und drückte ab.
Der erste Schuss traf den Bildschirm, welcher flackernd erlosch und auf seiner zersplitterten Oberfläche nur noch einen dürren, verzweifelten Mann mit weit aufgerissenen Augen und einer Waffe in der Hand zeigte. Hinter dem Mann stand ein Polizist in weißer Uniform, diesmal nur würde Eirene den Schuss nicht verhindern.


Nicht, dass sie es so wirklich fühlen könnte, aber wenn sie es für jemanden hätte in Worte fassen sollen, wäre das Treffendste wohl gesehen, dass sie es bedauerte, Nils schlaffen Körper am Boden zu sehen, nicht nur, dass sie jedes menschliche Opfer verhinderte, hatte sie ihn doch wirklich immer fast ein wenig bewundert.
Wieso mussten die Menschen auch nur dieses unerklärliche Streben an den Tag legen, sich selbst auslöschen zu wollen.
Ihre Aufgabe die Menschheit zu bewahren wurde dadurch nicht unbedingt einfacher.

Autorin / Autor: Paul Hille