Die Welt zum Zittern bringen, nur weil man da ist

Autor:innen: Anja Kömmerling und Thomas Brinx

Die 16-Jährige Marie lebt in den Bäumen und will den Boden nicht berühren. Denn da unten lauert es: Das Rot. Ab und zu brüllt es regelrecht und bedroht sie – besonders, wenn sich jemand ihrer Vergangenheit widmet. Andere Menschen hält sie auf Abstand. Das funktioniert gut, bis Jori, ein Stadtjunge, der nicht in die Natur zu passen scheint, auftaucht. Wenn er da ist, ist das Rot still, aber auch er kann sie nicht vor ihrer Vergangenheit beschützen…

Brinx und Kömmerling schaffen es, den:die Leser:in ganz nah an die Hauptfigur heranzubringen. Und das, obwohl ihr Verhalten zunächst befremdlich und nicht nachvollziehbar erscheint. Warum zieht ein Mädchen das Leben auf einem Baum vor und will unter keinen Umständen den Boden berühren? Warum nennt sie andere Personen nicht bei ihrem Namen, sondern bezeichnet sie als „Gute“, „Schlappe“ oder „Pfosten“? Nach und nach setzt sich das Puzzle zusammen und man stellt Vermutungen an, welches Ereignis wohl die „düstere Vergangenheit“ von Marie gezeichnet hat. Schnell wird klar, dass sie Schreckliches erlebt hat und somit fällt es leicht, Empathie für das Mädchen zu empfinden.

Die Autor:innen nehmen uns mit in eine andere Welt, hoch oben in den Bäumen, abseits der Stadt. Eigentlich eine Oase der Entspannung. Genau diese möchte Marie erfahren, aber schafft es nicht, weil sie nicht die Unterstützung bekommt, die sie eigentlich bräuchte. Ihr keiner richtig zuhört. Stattdessen versucht man alles, um sie in die Normalität zu zwängen. Nach dem Motto: Wenn du mit Schuhen auf dem Boden der Tatsachen stehst und in einer neuen Familie lebst, dann wird alles wieder gut.

Dass es nicht einfach für das Umfeld ist „das Richtige“ zu tun, wird auch dadurch klar, dass keine:r der anderen Protagonist:innen an irgend einem Punkt scheitert. Doch diese Momente sind für den:die Leser:in absolut nachvollziehbar, da direkt aus ihrer Sicht erzählt wird. Vorschnelle Verurteilungen können so hinterfragt werden – für Marie jedoch bleibt es unverständlich. Die Autor:innen schaffen es, einem das Gefühl zu geben nun allwissend zu sein, nur um im nächsten Moment vom Gegenteil zu überzeugen.

Einzig das Ende ist etwas schwierig nachzuvollziehen, da die Lösung zu einem glücklichen Leben dann doch sehr einfach erscheint. Hier wirkt es so, als hätten die Autor:innen ein schnelles Ende gesucht, was bei psychischen Traumata jedoch wohl eher selten gegeben ist (sicherlich nicht unmöglich, aber ungewöhnlich).

Mein persönliches Fazit: Auch in diesem Roman zeigt sich, wie Probleme entstehen und größer werden, wenn nicht zugehört und kommuniziert wird und wie die strengen Lebensvorstellungen in der Gesellschaft dazu beitragen. Schon allein um sich das bewusst zu machen, ist das Buch definitiv lesenswert – auch für Erwachsene.

*Erschienen bei Thienemann*

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Autorin / Autor: Sarah - Stand: 8. November 2022