Beeren pflücken

Autorin:  Amanda Peters
Übersetzt von Brigitte Jakobeit

Sommer 1962, so wie jedes Jahr ist der sechsjährige Joe mit seiner Familie aus Nova Scotia nach Maine gefahren, um dort die Blaubeerfelder abzuernten. Doch in diesem Jahr ist alles anders. In diesem Jahr kehren sie nicht als ganze Familie zurück nach Nova Scotia, denn Ruthie, die Jüngste der Mi‘kmaq Familie, ist eines Tages einfach verschwunden. Nicht mehr zu finden auf dem Stein, auf dem sie doch noch vor einem Moment saß. Nicht in den Feldern, nicht in den Wäldern.
Es vergehen Tage des Suchens, des Unglaubens darüber, dass die Polizei nicht weiterhilft, die Diskriminierung trifft die Familie wie ein Schlag. Die Wut weicht irgendwann dem tauben Gefühl von Verlust, und als Joes Familie nach einiger Zeit wieder nach Hause fährt, ist sie gebrochen. Es sind nur noch vier Kinder, nicht fünf. Die Lücke, die Ruthie in der Familie hinterlässt, ist gewaltig. Stumm legt ihre Abwesenheit einen Mantel der Trauer und Wut um die Familie. Während seine Mutter sich von Tag zu Tag schleppt, brodelt es in Joe. Er hat eine lodernde Flamme im Bauch, die er jeden Moment auf die Welt loslassen möchte.

An einem anderen Ort, irgendwo in Maine, wächst Norma auf. Ihre Familie ist ganz anders als die von Joe. Zwei Eltern und sie, außerdem noch eine Tante, die ab und an zu Besuch kommt. Norma wächst mit vielen Regeln auf. Sie darf nicht im Vorgarten spielen, nicht mit auf Übernachtungsreisen, nicht weit weg vom Haus ihrer Eltern. So groß ist die Angst ihrer Mutter, ihr könne etwas zustoßen. Schließlich ist sie ein absolutes Wunschkind, endlich hier bei ihren Eltern, nachdem ihre Mutter so viele Fehlgeburten erlebt hat. Norma will es richtig machen, wirklich. Sie will ihrer Mutter die Angst nehmen und für sie da sein, versucht verzweifelt die Träume von einem anderen Leben nicht mehr zu haben, die sie nachts manchmal aufwecken und die bei ihrer Mutter so starke Kopfschmerzen auslösen. Doch sie wird das Gefühl nicht los, dass sie nicht dazugehört, dass da ein Geheimnis ist, das ihr distanzierter Vater und ihre klammernde Mutter vor ihr verstecken. Vielleicht eine Erklärung, die über bloße Liebe hinausgeht.

Norma und Joe- beide wachsen mit dem Gefühl einer erdrückenden Schuld auf. Joe, weil er, immerhin zwei Jahre älter, nicht auf die kleine Schwester aufgepasst hat und sich auch nach 50 Jahren noch nicht damit abgefunden hat und Norma, weil sie mit allem, was sie macht, schon mit dem Erwachsenwerden, ihrer Mutter Schmerzen bereitet.
Der Weg aus dem Schuldgefühl heraus ist für beide nicht einfach. Beide kämpfen auf ihre Art und Weise mit sich und der Welt. Mit dem Rassismus, den Mi’kmaq in Nordamerika erleben, einer Familie, die unter dem Verlust eines Kindes fast zerbricht, auf der einen Seite und mit den strengen Vorstellungen einer strengen Mutter, die all ihre Ängste und Sorgen auf das einzige Kind projiziert auf der anderen Seite. Aber irgendwie geben sie beide nie auf.

Meine Meinung zum Buch

Amanda Peters schreibt abwechselnd aus der Sicht von Joe und Norma. Dabei wechselt Joe immer mal wieder aus der Vergangenheit ins Heute, berichtet von der Krankheit, die ihn auffrisst und seine Familie auf verquere Art wieder näher zusammenbringt.
Die Geschichte ist erschütternd und gewährt einen Einblick in Gewalt und Diskriminierung, gleichzeitig kann sie auch Hoffnung schenken - wenn man sie denn sehen möchte. Mir hat der Erzählstil trotz ein paar Längen gut gefallen. Es gibt keine riesigen Plottwists, aber das nimmt der Dramatik der Geschichte in meinen Augen nichts. Neben den beiden Protagonist:innen lernen wir auch die anderen Figuren gut kennen, allerdings immer aus der Perspektive von Norma oder von Joe. Dadurch liegt ein starker Fokus darauf, was das Verhalten Anderer mit den beiden macht und geht weniger in die Tiefe einzelner Figuren. Das hat mich jedoch nicht gestört. Die Lebensrealität von Native Americans, in diesem Fall einer Mi’kmaq Familie, fließt eher durch die Erzählung vom familiären Alltag als über beschriebene politische Debatten in die Geschichte ein (die Charaktere sind in meinen Augen nicht stark politisiert). Darüber hätte ich gerne noch mehr erfahren, aber vielleicht wäre das für einen einzelnen Roman auch zu viel gewollt gewesen.

Alles in allem ein toller Roman für alle, die sich für Identitätsfragen und Familiengeschichten interessieren und ganz nebenbei noch etwas über ein paar Aspekte der jüngeren nordamerikanischen Geschichte erfahren wollen.

Erschienen bei HarperCollins

Deine Meinung?

Autorin / Autor: Karla G. - Stand: 21. Mai 2025