Schrei! Nur wenn ich laut bin, wird sich was ändern

Autorin: Laurie Halse Anderson
Übersetzt von Bernadette Ott

Was macht ein „gutes“ Buch aus?
Was macht ein Buch „schön“?
Ist es der Inhalt, der Schreibstil? Ist es überhaupt etwas so Greifbares?
Diese Fragen stelle ich mir seit gut einer Woche, seit ich „Schrei!“ von L.H. Anderson beendet habe und nun also versuche, eine sinnvolle Rezension zu verfassen, die dieser Lektüre gerecht wird.
Das Buch, das vor mir auf dem Tisch liegt, wirkt eigentlich alles andere als aufdringlich. Nicht gerade unscheinbar, aber eben keins, das einen auf den Buchhandelsregalen sofort anspringt. Irgendwie zurückgenommen mit seinem sanft glitzernden, fliederfarbenen Hintergrund. Auch der Titel, obwohl so laut in zwei Zeilen über 2/3 des Frontcovers in pinkfarbener, schnörkelloser Druckschrift, wirkt irgendwie… zurückgenommen. Und das ist gleich eine der wichtigsten Botschaften, die zwischen den gut 280 Seiten wartet: Leid kann man nicht immer sehen. Manche, denen viel Leid wiederfährt, sind so zurückgenommen, dass man ihren inneren Sturm nicht merkt. Sie fallen ja selber gar nicht auf.

Es ist ein stilles Buch, das dafür umso ohrenbetäubender hallt.
Ein schönes Buch, das eine der hässlichsten Geschichten erzählt, die mir je zwischen zwei Buchdeckeln begegnet ist.
Ein gutes Buch, das vom Extrakt der Schlechtigkeit der Welt geboren ist.
Ich hoffe, dass es gehört wird.
Ich hoffe, dass die Botschaften und Lehren, die uns Laurie Halse Anderson gewährt, erhört und angenommen werden.
Ich hoffe, dass es hilft, diese Welt ein bisschen besser, ein bisschen lebenswerter zu machen.

Von „Schrei!“, im englischen Original „Shout!“, hatte ich bereits gehört, lange bevor ich es auf der Lizzynet-Leseliste entdeckt habe. Im Young Adult Mental Health (Jugendbücher, die sich vorrangig mit Themen der psychischen Gesundheit wie Depressionen, Angstzustände, Essstörungen und ähnlichem befassen) Literaturbereich gibt es kaum ein Buch, dessen Titel mir nicht wenigstens bekannt vorkommt – zumal dieser Bereich eine relativ junge Literatursparte ist – und für mich gibt es dabei einige wenige Bücher und Autoren, die wirklich herausstechen. Wer sich ebenfalls mit dieser Sparte auseinander gesetzt hat, dem dürfte Anderson ein Begriff sein. Mit „Sprich“ (engl. Speak) und „Wintermädchen“ (Wintergirls) geistern auf dem deutschen Markt bereits zwei ihrer Bücher herum, die immer wieder in Blogs und Foren zum Thema „Jugendliteratur zur Psychischen Gesundheit“ auftauchen. Mir war also schnell klar, als ich vom Erscheinen von „Shout!“ hörte, dass es ein schonungsloses, emotionales und dennoch absolut lesenswertes Werk sein würde. War ich deshalb auf das vorbereitet, was mir letztlich auf diesen Seiten begegnen sollte? Ehrliche Antwort: Definitiv nicht.

Zum einen bedient sich Anderson keiner klassischen Romanform. Zum anderen ist es ihre eigene Geschichte. „Schrei!“ ist, wie das Backcover so treffend verrät, eine „Autobiografie in Versform“.
Statt herkömmlichen Kapiteln lesen wir Gedichte, die nochmal in drei größere Blöcke – Erster, Zweiter und Dritter Teil – gefasst sind. In freien Versformen und von unterschiedlicher Länge ist jedes dieser Gedichte wie ein Puzzleteil, mit denen wir nach und nach die ganze Geschichte zusammensetzen können. Manchmal sind sie erzählend und man kann sie wie Sätze lesen, manchmal sind es Momentaufnahmen, Eindrücke, lose Gedankenfetzen, die nachhallen und gerade mal eine Idee geben, wofür sie stehen, warum sie wichtig genug sind, um auf Papier festgehalten zu werden.

Inhaltlich, das will ich nicht verschweigen, ist das Werk harter Tobak. In einem Satz gesagt befasst sich Anderson in „Schrei!“ mit dem Thema Vergewaltigung und sexuelle Gewalt. Nur, dass dieser Satz so weit von der Wirklichkeit weg ist, wie nur irgend möglich. Klar, dieser Satz klingt hart und erschreckend und man mag fragen „Ist das nicht genug?“. Ja, ist es denn genug? Ist die Geschichte denn beendet, wenn jemand sagt „Ich wurde vergewaltigt“? Ist das das Einzige von Belangen? Gehört da nicht noch mehr dazu?

Und um dieses „mehr“ geht es eben auch. Vielleicht steht es sogar noch deutlicher heraus. Denn Anderson erzählt von den Gefühlen danach. Von den Zweifeln an sich selbst und der Welt. Vom inneren Kampf – darf man laut sein, um Hilfe bitten? Oder muss man – besser, muss Frau – das einfach hinnehmen, klein beigeben, alles herunterschlucken?

Es ist ein mutiges Buch. Denn jeder, der ein solches Leid jahrelang mit sich selber ausmacht, zu viel Angst oder zu viel Scham hat, darüber zu sprechen, braucht Mut, diesen Schritt zu wagen. Und die Gesellschaft braucht den Mut zuzuhören.

Ich habe es bereits gesagt und ich sage es noch einmal: Ich hoffe dieses Buch wird gehört.
Ich hoffe, es erreicht nicht nur die Opfer und deren Angehörige.
Ich hoffe, es erreicht die Täter und öffnet ihnen die Augen. Wenn nur einer die Augen aufmacht, ist das ein Riesenschritt.
Ich hoffe, es erreicht diejenigen, die bewusst wegschauen und lässt sie begreifen, dass ihr Wegschauen zur Mitschuld führt.
Ich hoffe, es erreicht alle anderen, die einfach nicht mitbekommen, dass etwas passiert und macht sie aufmerksamer.
Ich hoffe, es erreicht Schulen und Regierungen und sonstige Obrigkeiten und macht ihnen klar wie wichtig es ist, solche Themen nicht tot zu schweigen sondern offen darüber zu reden. Probleme verschwinden nicht, nur weil man sie nicht anspricht. Das macht sie nur umso drückender.

Ich gebe „Schrei!“ meine vollen 5/5 obwohl mir bewusst ist, dass es eine enorme Triggergefahr (Informationen zu Hilfsorganisationen und –websites sind den letzten Seiten zu entnehmen!) ausstrahlt. Ich gebe dieses Rating für die Ehrlichkeit und den Mut und weil es trauriger Weise ein zu deutlicher Spiegel der Gesellschaft ist. Ich gebe dieses Rating, weil ich möchte, dass das Buch gelesen wird und weil es trotz allem ein wahrer Akt der Kunst ist.   


*Erschienen bei bold*

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    Autorin / Autor: cheshirekitty - Stand: 9. Januar 2020