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Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Julie S., 24 Jahre

Was würde Samar ohne Lea tun?
Sie ist immer da, wenn Samar alle Hoffnung verliert und niemand auf ihrer Seite steht.
Lea war da, als Samars allerliebste Boygroup sich trennte. Sie war tagelang unglücklich, aber wenn sie ihren Freunden erzählte, was passiert war, bekam sie als Trost bestenfalls ein „Das ist ja scheiße.“ Ein paar von den Jungs lachten sie sogar aus. Ihre ältere Schwester auch. Die jüngere kannte noch nicht einmal das Wort „Boygroup“. Und mit ihren Eltern versuchte Samar gar nicht erst, darüber zu reden. Aber Lea lachte nicht. Obwohl sie One Direction nicht von den Beatles unterscheiden konnte, hörte sie sich Samars Wehklagen geduldig an, ohne zu lachen, und nahm sie tröstend in den Arm, wenn sie weinen musste.

Lea war da, als Tim mit Samar Schluss machte. So gut wie jeder Mensch auf dem Planeten hatte Samar gesagt, dass Tim eine schlechte Idee war. Sogar ihre Eltern, sogar ihre Schwester, sogar Lea. Wahrscheinlich hätten selbst ihre Lehrer zugestimmt, wenn sie gefragt hätte. Aber Samar hatte kein Interesse, andere zu fragen. Es scherte sie nicht, weil sie in Tim verliebt war. Er hatte ihr auf den ersten Blick gefallen; er war Fisch und sie war Krebs; es passte alles perfekt zusammen. Nicht im Traum hätte sie gedacht, dass sich die Prophezeiungen ihrer Eltern bewahrheiten würden. „Ich hab es dir doch gesagt“, bekam sie von allen Seiten zu hören. Aber Lea sagte nichts dergleichen. Sie ließ Samar sich bei ihr ausheulen und beschimpfte Tim im gleichen Maße, wie sie Samar tröstete. Manchmal steigerte sie sich so in ihre Tiraden herein, dass es Samar zum Lachen brachte.

Lea war da, als Tanja Samar in die Ecke der Mädchentoilette drängte. Tanja hatte Samar noch nie leiden können. Meistens ließ sie sie wenigstens in Frieden, doch an diesem Tag war alles anders. Samar weiß, dass Tanja eifersüchtig auf sie gewesen war. Tanja mochte Tim. Sie wollte sicherstellen, dass Samar nicht wieder mit ihm zusammenkommen würde. Zumindest sagte sie das so. Es trieb Samar sofort die Tränen in die Augen und die Hitze ins Gesicht. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, war Lea da und schubste Tanja zurück und schrie Tanja an. Samar weiß nicht mehr, was Lea schrie und was Tanja zurückkreischte. An die Ohrfeige, die Tanja Lea gab, erinnert Samar sich. Und als die Tür hinter Tanja zuknallte, drehte Lea sich zu Samar um. „Bist du okay?“, fragten sie gleichzeitig. Sie mussten lachen, und Samar fühlte sich gleich besser.

Lea war da, als Samar durch das Abitur fiel. Als Samar von der Realschule aufs Gymnasium gewechselt hatte, waren ihre Eltern geteilter Meinung gewesen, und auch ihre Lehrer waren sich uneinig, ob sie es mit ihrem Deutsch schaffen würde oder nicht. Als sie aber das Abitur nicht bestand, waren alle Zweifel beseitigt. Alle rieten ihr, gleich eine Ausbildung anzufangen oder ein FSJ zu machen. Alle waren der Meinung, das Abitur noch einmal zu versuchen, wäre Zeitverschwendung. Lea fand das nicht. Lea fand, wenn Samar es noch einmal versuchen wollte, sollte sie das tun. Und Lea versprach, Samar regelmäßig Deutschnachhilfe zu geben. Sie half ihr – und sie schafften es irgendwie – Samars Eltern zu überreden, dass das eine gute Idee wäre. Samar weiß, dass sie ohne Leas Hilfe aufgegeben hätte. Dass sie ohne Leas Hilfe nie hätte studieren können.

Lea ist immer da. Auch wenn sie nicht körperlich anwesend ist, ist sie da. Samar muss nur daran denken, wie Lea reagieren würde, wenn sie neben ihr stünde, und schon ist die schwierigste Situation nur noch halb so schwer. Samar weiß, dass sie im Beste-Freundin-Lotto den Hauptgewinn gezogen hat; sie hat die liebste, stärkste und coolste beste Freundin, die man nur haben kann.

Eines Tages sitzen Samar und Lea zusammen beim Kaffee in Leas Wohnung. Es ist ein ziemlicher Schock, als Lea urplötzlich in Tränen ausbricht. Sie sitzt einfach nur da, das Gesicht in den Händen vergraben, und weint. Samar ist wie auf ihrem Stuhl festgewurzelt. So hat sie Lea noch nie gesehen. Zwischen ihren Schluchzern, die ihre runden Schultern zum Erbeben bringen, kann Samar hier und da ein Wort ausmachen. Schließlich hat sie sich aus diesen Satzfetzen eine Geschichte zusammengereimt.
Lea hat bei ihrem neuen Job die Leitung für ein größeres Projekt zugesprochen bekommen, obwohl sie wenig Erfahrung hat. Darüber sind einige ihrer Kollegen nicht glücklich, besonders die, die schon länger dort arbeiten. Die waren scheinbar so sauer, dass sie das erste Meeting hauptsächlich damit verbracht haben, Lea nach Möglichkeit zu sabotieren.
„I-ich krieg das nie im L-Leben hin“, würgt Lea heraus. „Ich werd ganz sicher versetzt oder- o-oder gef-feuert…“
Ihre Stimme zittert und ihr Gesicht sinkt zurück in ihre Hände.

Bei einem besonders erbärmlichen Wimmern löst sich Samar endlich aus ihrer Schockstarre. Sie steht von ihrem Stuhl auf und quetscht sich stattdessen neben Lea auf den ihren. Sie legt ihre Arme um Lea und drückt sie fest, und Lea sackt gegen sie und vergräbt das Gesicht in Samars Schulter.
Als Samar so dasitzt und Leas Rücken tätschelt und sich der nasse Fleck an ihrer Schulter immer weiter ausbreitet, bemerkt sie ein seltsames Gefühl in ihrem Bauch. Es ist begraben unter der brodelnden Wut auf die Idioten bei Leas Arbeit, aber es ist da; es ist ein gewaltiges, drängendes Gefühl, doch es macht Samar ruhig und gefasst.
Sie weiß, dass sie jetzt dran ist. Jetzt ist sie da.

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