Jossel Wassermanns Heimkehr

Autor: Edgar Hilsenrath
Ein rührendes, mit leichtem Humor geschriebenes Buch, das einen Haufen lehrreicher Fakten zur jüdischen Religion und Kultur enthält

Die Geschichte bleibt

„Und der Rebbe nickte und sagte: ‚Ja, du hast vollkommen recht. Die Gojim sind dumm. Sie plündern jetzt unsere Häuser. Und sie graben in unseren Gärten. Und sie glauben, dass wir alles zurückgelassen haben, was wir besaßen. Und sie lachen sich ins Fäustchen. Dabei wissen sie nicht, dass wir das Beste mitgenommen haben.’ ‚Was ist das Beste?’ fragte der Wind. Und der Rebbe sagte: ‚Unsere Geschichte. Die haben wir mitgenommen.’“

Worum geht es?

Jedenfalls nicht um Jossel Wassermanns Heimkehr, denn die wird, wie einem schon im Klappentext mitgeteilt wird, wohl nie stattfinden. Stattdessen geht es um Geschichte, Geschichten... und Pohodna. Letzteres ist ein größtenteils von Juden bewohntes Dorf, dass in seiner Geschichte mal Rumänien, mal Polen, Deutschland oder Österreich-Ungarn angehört hat, und entsprechend multikulturell geprägt ist. Das Buch fängt mit dem Ende an, d.h. mit dem Ende von Pohodna; zu dem Zeitpunkt, wo alle Juden des Dorfes in einen Güterzug geladen werden, der sich eine Weile vernichtungslagerwärts bewegt, dann jedoch auf einem Abstellgleis stehen bleibt. Zeit genug für die Insassen des Zuges, sich um ihre Hoffnungen und Befürchtungen Gedanken zu machen und sich noch einmal die Geschichte von Onkel Jossels Testament zu erzählen...

*Ein Erzähler mit Ecken und Kanten*
Jossel Wassermann nämlich, ein gebürtiger Pohodner, der es in der Schweiz zu einigem Wohlstand gebracht hatte, erklärte am Vortag des zweiten Weltkriegs, er liege im Sterben, ließ seinen Notar und seinen Rechtsanwalt holen, vererbte einen Großteil seines Geldes seiner Heimatstadt unter der Bedingung, auf dem dortigen Friedhof begraben zu werden und diktierte ihnen seine Memoiren mit der Anweisung, sie dem Thoraschreiber Pohodnas zur ewigen Aufbewahrung zu übergeben. Dabei holt er weit aus, genau gesagt bei seinem Ururgroßvater Mordechai, der sich als erster Jude in Pohodna angesiedelt hat. Und so werden eine Vielzahl von mehrere Jahrhunderte überspannenden Anekdoten zu einem einzigen Bilderbogen zusammengewebt, der ein ausführliches Bild dieser kleinen Stadt ergibt. Trotz des ernsten Themas ist dieser Hauptteil des Buches in keiner Weise dunkel oder deprimierend zu lesen, was vor allem an Onkel Jossel liegt; denn dieser ist ein Erzähler mit Ecken und Kanten, der frei von der Leber weg von Geschlechtsorganen und Verdauungsvorgängen redet, Frauen als Sexobjekte ansieht, Nicht-Juden fast so viel Misstrauen entgegenbringt wie andersrum und überhaupt kein bisschen den Eindruck macht, er würde im Sterben liegen - es wäre auch nicht der erste Fehlalarm. Aber eins muss man dem Mann lassen – erzählen kann er. Und obwohl es allen Anwesenden im Krankenzimmer erscheint als würde die Luft „nach Krieg riechen“, scheint der Krieg, der Holocaust und das unausweichliche Ende von Pohodna noch sehr, sehr weit weg. So ist es ein kleiner Schlag in die Magengrube, wenn die Erzählung schließlich ans Ende zurückkehrt, denn inzwischen weiß man natürlich, was hier gerade im Begriff ist, verloren zu gehen... und fragt sich unwillkürlich, ob es vielleicht noch Hoffnung geben könnte. Fährt der Zug tatsächlich zum Vernichtungslager weiter (wie lange dauert dieser Krieg eigentlich noch)? Können vielleicht einige überleben und mit Onkel Jossels Geld die Stadt wiederaufbauen? Und wenn es schon für die Menschen gar keine Hoffnung mehr geben sollte, gibt es eine Möglichkeit, wie wenigstens die Geschichte überleben kann (die ja, wie der Rabbi uns schon im Prolog erzählt hat, ohnehin das Wichtigste ist)?

*Muss man es gelesen haben?*
Nach dieser lang gewordenen Zusammenfassung nun zur Frage, die alle, die so lange durchgehalten haben, garantiert schon brennend beschäftigt: Ist es ein Buch, das man gelesen haben muss? Die Antwort ist ein klares... eventuell. Ohne jetzt konkret das Ende verraten zu wollen, kann ich vorsichtshalber schon mal sagen, dass Leute, die ihre Bücher gerne mit hollywoodmäßigem Happy End und aufbauender Moral haben, lieber was anderes lesen gehen sollten. Das gleiche gilt für Leute, die sich schon beim ersten Anflug von Symbolismus traumatisch an den Deutschunterricht erinnert fühlen, denn es gibt hier einige interpretierungswürdige Erzählstil-Seltsamkeiten (die jedoch selten nennenswert von der Geschichte ablenken). Für alle anderen haben wir hier ein rührendes, mit leichtem Humor geschriebenes Buch, das einen Haufen lehrreicher Fakten zur jüdischen Religion und Kultur enthält und das ich – trotz des scheinbar deprimierenden Themas – extrem leicht zu lesen fand.

Autorin / Autor: zachanassian - Stand: 6. Mai 2004